Samstag, 22. Dezember
Ute hatte die ganze Nacht kaum geschlafen und um kurz vor 6
Uhr in der Früh hatte sie aufgegeben und war aufgestanden. Sie war einfach zu
aufgeregt vor dem, was der heutige Tag bringen würde. Lars war gestern Abend
noch auf der Weihnachtsfeier vom Institut gewesen, zu der auch ehemalige
Mitarbeiter eingeladen waren. Sie selbst hatte Kopfschmerzen vorgeschoben und
war zu Hause geblieben. Sie hatte nicht wirklich den Eindruck gehabt, als wäre
er traurig darüber gewesen. Andererseits war sie froh gewesen, dass er nicht
versucht hatte, sie zu überreden. So hatte sie wenigstens in Ruhe mit Susanne
besprechen können, wie sie heute vorgehen sollte. Lars hatte ihr bereits kurz
nachdem sie aus der Dusche gestiegen waren eröffnet, dass er am kommenden
Vormittag nochmal alleine in die Stadt müsse, er habe noch eine ganz besondere
Überraschung für sie, um die er sich kümmern müsse. Ute war sich der Ironie
dieser Aussage durchaus bewusst, verkniff sich aber jeden Kommentar. Da Lars
kurz zuvor an seinem Handy gewesen war, war für sie die Sache klar. Ihr Plan
hatte funktioniert, „Charles“ hatte die SMS erneut geschickt und die beiden
waren verabredet. So hatte sie also die Gelegenheit genutzt, als Lars auf der
Weihnachtsfeier war mit Susanne das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie hatten
sagenhafte zweieinhalb Stunden miteinander telefoniert und Susanne hatte sie
davon überzeugt, dass es das Beste war, weiterhin gute Miene zum bösen Spiel zu
machen, damit er sich in Sicherheit wiegte und sie rausfinden konnte, was
wirklich vor sich ging, bevor er ihr wieder Lügengeschichten auftischte, wenn
sie ihn zur Rede stellte.
Trotzdem konnte sie die Gelegenheit heute natürlich nicht
ungenutzt lassen herauszufinden, wer seine Affäre war. Sie hatte Susanne
erklärt, dass sie ihm einfach folgen wolle um zu sehen, mit wem er sich
träfe. Susanne hatte sie allerdings
darauf aufmerksam gemacht, dass dies keineswegs so einfach war, schließlich
wusste sie nicht, ob er zu Fuß, mit dem Auto, mit dem Rad oder mit der Bahn
fahren würde. Da er ihr gesagt hatte, er wolle in die Stadt, würde er kaum zu
Fuß gehen, das wäre unglaubwürdig. Das erschwerte es natürlich ungemein, ihm
unauffällig zu folgen. Sie konnte ihm schlecht mit ihrem Rad hinterherfahren,
falls er mit dem Rad fuhr, das würde er merken. Wenn er die Bahn nahm, musste
sie die gleiche Bahn erwischen, da sie ja nicht wusste, wo er aussteigen würde
und ihn dabei unauffällig zu beobachten, würde ebenfalls ziemlich schwierig
werden. Ihm im Stadtverkehr unauffällig mit ihrem eigenen Auto zu folgen war
ebenfalls fast ein Ding der Unmöglichkeit, da nicht wahnsinnig viele Menschen
ein knalloranges Auto fuhren, da würde er sie ziemlich schnell entdecken. Sie
hasste die Farbe ihres Autos gerade einmal wieder, aber es war günstig gewesen
damals, deswegen hatte sie es genommen. Lars hatte gesagt, man könne es immer
noch umlackieren, was bis heute nicht geschehen war.
Schließlich hatte Susanne vorgeschlagen, dass sie ihn mit
ihrem Auto verfolgen konnten. Sie fuhr einen schwarzen Golf, davon gab es
Tausende, insofern war es unauffällig und Lars würde vermutlich auch nicht
darauf achten. Sollte er mit dem Rad fahren, könnten sie ihm mit einem gewissen
Abstand ebenfalls folgen und auch falls er die Bahn nahm, könnten sie der
Bahnstrecke folgen und an den Haltestellen darauf achten, wo er aussteigen
würde, auch wenn dies sicherlich schwierig würde, aber sie waren ja zu zweit.
Sie hatten ausgemacht, dass Ute sich um kurz nach zehn verabschieden würde,
Lars hatte gesagt, er wolle gegen elf los. So konnte er sich in Sicherheit
wiegen und sie würde gemeinsam mit Susanne im Auto etwas entfernt vom Haus
warten und ihm dann folgen.
Ute war selten so nervös gewesen. Hoffentlich würde ihr Plan
funktionieren und sie könnten Lars wirklich unauffällig folgen, ohne seine Spur
zu verlieren. Die meiste Sorge machte ihr, falls er die Bahn nahm oder gar zu
Fuß ging und einen Weg durch den Park nahm, dem sie mit dem Auto nicht folgen
konnten. Aber vielleicht hatte sie ja Glück.
*****
Lars frohlockte. Ute hatte ihm gesagt, sie wolle ebenfalls
noch einen kleinen Stadtbummel unternehmen mit Susanne und hatte sich bereits
um kurz vor zehn verabschiedet, so dass er sich in Ruhe fertigmachen konnte,
ohne dass er skeptische Blicke für seine Parfümierung oder Ähnliches fürchten
musste. Er fühlte eine riesige Vorfreude auf Charlotte, trotz aller Probleme,
die dieses Treffen möglicherweise umgaben.
Pfeifend verließ er das Haus und überlegte kurz, ob er das
Auto oder die Bahn wählen sollte. Nach dem Treffen mit Charlotte musste er
definitiv noch in die Stadt, um tatsächlich noch irgendein Geschenk für Ute zu
besorgen, damit seine Ausrede auch Bestand hatte. Eigentlich sprach alles gegen
das Auto, man bekam bei Charlotte erfahrungsgemäß keinen Parkplatz und am
letzten Samstag vor Weihnachten mit dem Auto in die Stadt zu fahren, grenzte
wohl auch an Selbstmord. Allerdings hasste er es, auf die Bahn angewiesen zu
sein, zumal die sicherlich auch überfüllt war, so dass er dennoch das Auto
nahm. Eventuell würde er statt in die Innenstadt hinterher nach Weiden ins
Einkaufszentrum fahren, dort gab es ein Parkhaus und bei dem Regen machte es
auch keinen Spaß auf der Ehrenstraße nach Geschenken Ausschau zu halten.
Er hatte Glück und fand recht schnell einen Parkplatz in der
Nähe von Charlottes Wohnung. Gerade als er eingeparkt hatte, fiel ihm ein, dass
er vergessen hatte Brötchen zu besorgen. Aber auf der Hauptstraße in der Nähe
gab es einen Bäcker, dann würde er dort vorbeigehen, bevor er zu ihrer Wohnung
ging.
*****
Es hatte perfekt geklappt mit der Verfolgung. Lars hatte
tatsächlich das Auto genommen und der Verkehr war so dicht, dass sie nicht auffielen,
aber auch nicht zu dicht, so dass sie ihn nicht im Gewusel verlieren konnten.
Schließlich hatte er in einer kleinen Straße in der Nähe der Universität
geparkt. Susanne hatte Abstand gehalten, sie waren 200 Meter hinter ihm, gerade
am Anfang der Straße und wollten beobachten, wohin er gehen würde. Er hatte
schon angefangen, in die Gegenrichtung zu gehen, als er es sich plötzlich
anders überlegte, umdrehte und ihnen entgegenlief. Susanne hatte keine Chance
zu wenden, da es sich um eine der unzähligen Einbahnstraßen der Gegend
handelte. Entsetzt hatte Ute Susanne angestarrt.
„Bück dich runter, dann sieht er dich nicht! Ich gebe Gas
und wir fahren an ihm vorbei, dann erkennt er mich auch nicht.“, reagierte
Susanne flink und trat bereits auf’s Gaspedal.
Ute tat wir ihr geheißen und tauchte erst wieder auf, als
sie um die nächste Kreuzung gebogen waren und er sie sicher nicht mehr sehen
konnte.
„Und nun? Jetzt haben wir ihn verloren.“, stieß Ute mit
enttäuschter Stimme hervor.
„Haben wir nicht, ich habe eine Idee! Wir wechseln den
Platz, du fährst mit meinem Auto über die Zülpicher Straße und parkst auf der
anderen Seite der Zülpicher Straße in einer Nebenstraße. Da wird er wohl nicht
hingehen, ich denke, er will irgendwo hier in den Bereich. Da wartest Du, ich
ruf Dich an. Ich zieh mir jetzt die Kapuze ins Gesicht, beim dem Regen fällt
das nicht auf, und versuche, ob ich ihn finde und werde ihm folgen. Na los!“
Ute starrte Susanne immer noch perplex an, während diese
bereits aus dem Auto gesprungen war und sich die Kapuze tief ins Gesicht
schnürte. Dann kam Ute endlich wieder zu sich und wechselte geschwind auf die
Fahrerseite.
„Ich meld mich gleich!“, rief Susanne und rannte los um die
Ecke und die Straße hinauf in die Richtung, in der Lars verschwunden war.
Ute hatte das Auto in der Nähe der Universitätsklinik geparkt
und wartete voller Nervosität, dass Susanne endlich anrufen würde. Nachdem sie
bereits ihren zweiten Nagel blutig gekaut hatte – sie hasste diese Angewohnheit
an sich – klingelte endlich ihr Handy. Susanne erkundigte sich nach ihrem
Standort und sagte, sie wäre in zehn Minuten da und würde ihr dann alles
erzählen, aber sie habe Lars gefunden. Ute fühlte, wie ihr Herz endgültig in
die Hose rutschte, obwohl sie erfolgreich gewesen waren. Sie hatte Mühe die
Tränen zurückzuhalten und bis Susanne da war, war ein dritter Nagel ihrer
Nervosität zum Opfer gefallen.
„Hat er dich gesehen?“, war das Erste, womit sie Susanne begrüßte, als diese
sich patschnass auf den Autositz sinken ließ.
„Ach was, ich glaube, der hat gar nichts wahrgenommen, der
hat überhaupt nicht auf seine Umgebung geachtet, sondern kam gerade völlig
verstrahlt grinsend aus der Bäckerei vorne an der Ecke, als ich dort ankam. Um
ein Haar wäre ich noch in ihn reingerannt, aber er hatte überhaupt keine Augen
für irgendwas, sondern hatte es scheinbar sehr eilig.“
„Weißt du, wo er hingegangen ist?“
„Ja, und ich weiß sogar ziemlich sicher, wo er geklingelt hat.“
Einigermaßen stolz strahlte Susanne sie an.
„Und wo?“, fragte Ute ungeduldig und hatte innerlich das
Gefühl, als müsse sie gleich sterben.
„Eins von diesen Mietshäusern in der Nikolausstraße, ich hab
die Hausnummer im Handy notiert,
gebe ich dir nachher. Ich konnte nicht hundertprozentig erkennen,
wo er genau geklingelt hat, aber
auf zwei Namen konnte ich es einschränken. Entweder bei
Holzheim oder bei Rudolf, sagt dir einer dieser Namen etwas?“
Ute hatte nur noch matt nicken können. Natürlich, darauf
hätte sie kommen können. Charles – Lotte – Charlotte Holzheim. Eine gute
Freundin von Doro und mit Sicherheit die Bäckerin dieser verdammten Plätzchen
in der Hasentüte.
Ute riss die Autotür auf. Sie musste sich übergeben.
*****
Zufrieden machte Lars sich auf den Weg nach Weiden. Das Gespräch
mit Charlotte war sehr gut gewesen. Und nicht nur das Gespräch. Sie hatten
zuerst gemeinsam gefrühstückt und sich dabei ausgesprochen. Er hatte sie
beruhigen können, ihr versichert, dass sie ihm wirklich das Wichtigste war und
er nach Weihnachten definitiv die Sache mit Ute angehen würde. Ihre Zweifel
hatte er ausräumen können. Im Gegenzug hatte sie zugegeben, tatsächlich
hauptsächlich aus Rachegelüsten hinaus mit Jan ins Bett gegangen zu sein, ihm
aber auch ehrlich gestanden, dass es bereits wieder gekracht hatte zwischen
ihnen und ihm von dieser Seite mit Sicherheit keine Konkurrenz drohe. Damit
hatte er leben können und so waren sie nach dem Frühstück auf Charlottes Bett
übereinander hergefallen, damit keiner von ihnen an diesem Tag noch einen Grund
haben würde, sich anderweitig einen Ausgleich zu suchen. Tatsächlich hatten sie
gleich dreimal miteinander geschlafen und Lars befürchtete, er hatte seine
Pulver nicht nur für den heutigen Tag verschossen. Am liebsten wäre er danach
einfach in ihrem Bett liegengeblieben und hätte geschlafen, aber er hatte noch
Geschenke zu besorgen und wollte seinen Vorwand mit den Geschenken auch nicht
überstrapazieren, er hatte Ute versprochen, spätestens am späten Nachmittag
zurück zu sein und es war bereits fast halb vier gewesen, als er bei Charlotte
aufbrach.