„Die Verzweiflung ist von dünnen
Wänden umgeben, die alle ins Laster oder ins Verbrechen führen.“
Les Misérables (1862), Victor Hugo
Lilienweiß und Rosenrot
Samstag, 1. Dezember
Lotte wurde wach und linste auf die
Uhr. Kurz vor acht. Sie stöhnte. Da konnte sie mal ausschlafen und
dann wurde sie in aller Herrgottsfrühe wach. Es war immer das
Gleiche. Sie überlegte kurz, sich einfach nochmal rumzudrehen und zu
versuchen weiterzuschlafen, aber es war zwecklos. Schröder hatte
gemerkt, dass sie erwacht war und jetzt stand er schwanzwedelnd vor
ihr und sah sie erwartungsvoll an. „Na gut“, murmelte Lotte,
strich dem Beagle, den sie letztes Jahr aus dem Tierheim geholt
hatte, nachdem er aus einem Versuchslabor befreit worden war und nun
im Tierheim zu versauern drohte, über den Kopf, während sie sich
aus dem Bett quälte.
Sie tapste ins Bad und warf einen Blick
in den Spiegel. Ihre schulterlangen, dunklen Locken hatten letzte
Nacht ganz offensichtlich noch ohne sie weitergefeiert. Schröder kam
ebenfalls ins Bad getapert und sah sie an. Im Gegensatz zu ihr war er
höchst motiviert, die warme Wohnung zu verlassen und sich den Weg in
den winterlichen Park zu bahnen. Es war gerade mal 1 Grad draußen,
wie Lotte beim Blick auf ihr Funkthermometer gesehen hatte. Sie
sträubte sich innerlich, ihre warme Wohnung gegen die Kälte
einzutauschen, aber es half nichts, der Hund hatte ein dringendes
Bedürfnis und sie auch. „Schröder, raus!“, wies sie den Hund
aus dem Bad. „Erst bin ich dran, dann geht’s auf in den Park.“
Schröder zeigte Verständnis und
trottete aus dem Bad. Lotte schloss grinsend die Tür. Sie war so
froh, dass sie ihn letztes Jahr aus dem Tierheim geholt hatte. Zuerst
war sie unsicher gewesen, ob sie wirklich genug Zeit für ihn haben
würde und sich so eine Verpflichtung nicht als Last erweisen würde.
Auch wenn Schröder ein Laborhund gewesen war, so hatte der Tierarzt
im Tierheim versichert, er sei abgesehen von der Tatsache, dass er
auf einem Auge blind sei, völlig gesund und sie würden noch einige
Jahre gemeinsam Freude haben. Eine Bindung für einige Jahre, so
etwas war normalerweise nicht ihr Ding, ihre längste Beziehung, wenn
man vom klassischen Beziehungsverständnis ausging, hatte gerade mal
etwas mehr als ein Jahr gedauert. Aber das konnte man nicht
vergleichen, Schröder war zwar ein Männchen, aber treu und nur bis
zum nächsten Hundekuchen nachtragend. Aufmerksamkeit brauchte er
zwar auch viel, aber dafür bekam sie umso mehr zurück und jedes
Mal, wenn sie in seine treuen Augen sah, in die sie sich damals
sofort verliebt hatte, auch wenn sie seinerzeit furchtbar traurig
dreinblickten, wusste sie, dass sie ihn nie wieder hergeben wollte,
selbst wenn sie dafür samstags um acht Uhr morgens hinaus in die
Kälte musste.
Als sie aus dem Bad kam, saß Schröder
schon an der Wohnungstür. Lotte hatte inzwischen beschlossen, sie
könne bei all den anstehenden Weihnachtsleckereien ein wenig im
Sinne ihrer Figur vorbeugen und aus dem Spaziergang eine Joggingrunde
machen. 65 kg bei 1,68 m waren zwar theoretisch völlig in Ordnung,
praktisch hatte sie aber in den letzten Wochen durch diverse
durchzechte Nächte zwei Kilo zugenommen und fühlte sich unwohl.
Lars interessierte das nicht, er hatte es überhaupt nicht bemerkt,
aber ihr selbst fiel es auf und wenn sie sich nicht wohl fühlte in
ihrer Haut, strahlte sie es auch aus. Bevor es jetzt im Dezember noch
weiter nach oben ging, war also eine Joggingrunde bestimmt eine gute
Idee. Sie schlüpfte in ihre wärmsten Laufklamotten, schnürte die
Laufschuhe, band sich die wirren Haare zusammen und zog eine warme
Mütze tief in die Stirn.
Sie leinte Schröder an und beide
machten sich auf den Weg zum Park. Es war immer noch nicht richtig
hell und kaum ein Mensch war auf der Straße. Außer zwei älteren
Leuten auf dem Weg zum Bäcker und einem Jogger, ebenfalls mit Hund,
der bereits auf dem Rückweg war, begegnete Lotte auf dem Weg zum
Park keine Menschenseele. Sie war zuerst langsam gelaufen, um
überhaupt in Fahrt zu kommen, aber schon jetzt stach die kalte Luft
in ihren Lungen. Trotzdem zog sie im Park das Tempo an, sie fühlte
sich trotz Schröders Gesellschaft ein wenig unwohl im Halbdunkel
zwischen den Bäumen. Noch zehn Minuten, dann ist es richtig hell,
redete sie sich innerlich zu. Sie erreichte die Brücke, die über
die Militärringstraße zum Geißbockheim und zum Decksteiner Weiher
führte, dachte zufrieden an das 1:1 des FC gestern in Berlin und
lief stramm weiter in Richtung Weiher. Inzwischen ging es besser, die
kalte Luft störte sie nicht mehr beim Atmen und sie bekam richtig
Spaß am Laufen. Auch Schröder war offensichtlich happy und so
beschloss sie, ein Stück um den Weiher in Richtung Haus am See zu
laufen und eventuell sogar eine komplette Runde um den See zu drehen.
Bis zum Fort VI war ihr immer noch kein Mensch begegnet, aber
wenigstens war es inzwischen ein wenig heller geworden. Lotte
beschloss, dass die Runde um den See heute doch noch nicht sein
musste und drehte um, irgendwie machte sie diese Einsamkeit heute
unruhig. Sie entschied, statt durch den Beethovenpark durch die
Kleingartenkolonie zurückzulaufen, vielleicht würde ihr dort jemand
begegnen. Kaum war sie in den Weg eingebogen, stürmte Schröder los
und raste auf einen anderen Hund zu. Es handelte sich um einen
Pekinesen. Davon gab es hier nicht so viele. Lotte rutschte das Herz
in die Hose, aber als die Besitzerin mit einer langen blonden Mähne
um die Ecke bog, atmete sie auf. Sie war es nicht. Die Hunde
beschnüffelten sich kurz, die Frau und sie tauschten ein Lächeln,
dann trennten sich ihre Wege wieder.
Zu Hause angekommen sprang Lotte
erstmal unter die warme Dusche. Trotz der sportlichen Betätigung
fühlte sie plötzlich eine Eiseskälte. Sie ließ das heiße Wasser
über ihren Körper gleiten und stand minutenlang einfach nur still
unter der heißen Dusche. Ihre Gedanken kreisten. Sie wollte es sich
nicht eingestehen, aber eigentlich wusste sie, woher die Kälte
stammte. Sie hatte von Anfang an diese diffuse Nervosität gespürt,
weil es nicht richtig hell war und dann weil es so einsam war.
Zwischendurch hatte sie sich berappelt und dann hatte sie sich fast
zu Tode erschrocken, nur weil ein Pekinese um die Ecke kam. Anastasia
hatte die Frau den Hund gerufen. Anastasia. Das musste man sich mal
auf der Zunge zergehen lassen. Gut, Schröder war vielleicht auch
nicht jedermanns Hundenamengeschmack, aber einen Pekinesen auch noch
Anastasia zu nennen war für sie der absolute Gipfel des schlechten
Geschmacks. Passte aber andererseits auch zu diesem Blondchen.
Andererseits, besser Blondchen und
Anastasia als Brünette und Hugo. Sie drehte das heiße Wasser ab und
brauste sich mit eiskaltem Wasser über die Beine. Sie musste etwas
für ihr Bindegewebe tun, dachte sie, während sie vor ihrem
geistigen Auge Utes durchtrainierte Schwimmerbeine sah.
Sie kochte sich einen starken Kaffee
und gab vier Scheiben Toast in den Toaster, während sie im
Kühlschrank nach der Pfifferlingspaste suchte, nach der sie seit
einigen Tagen süchtig war. Sie fragte sich, wie diese Dose immer
wieder nach hinten durchrutschen konnte. Ihr Kühlschrank war immer
ein einziges Chaos, so sehr sie sich auch bemühte, die Dinge
strukturiert einzuräumen. Sie wusste wirklich nicht, wie immer alles
wieder so durcheinander geraten konnte. Vielleicht besaß sie
wirklich ein chaotisches Karma, das auf ihre Umgebung abstrahlte,
eine Freundin hatte diese Theorie einmal aufgestellt.
Mit ihrem Frühstück wanderte sie an
den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Schröder hatte es sich
derweil in seinem Korb bequem gemacht, er genoss es nach dem Training
wohl auch, wieder daheim im Warmen zu sein, dachte Lotte.
Sie rief ihre Mails ab. Eine Dealseite
wollte ihr eine Schallzahnbürste verkaufen, ein Elektronikmarkt
pries ebenfalls seine unschlagbaren Angebote.
Betreff: Morgen
23:05 30.11.2012
Liebe Charlotte,
bis eben brütete ich noch über der
Arbeit, da fiel mir plötzlich auf, dass morgen ja der 1. Dezember
ist und ich erinnerte mich an den wundervollen Adventskalender, den
Du mir letztes Jahr hast zu Teil werden lassen. Ich habe gerade noch
einmal durch die Fotos gesehen, Du wunderschönes Mädchen und werde
jetzt mit süßen Gedanken an Dich ins Bett gehen.
Fühl Dich umarmt!
Dein Lars
Lotte lächelte. Der Kalender war
wirklich ganz großes Kino gewesen. Sie hätte noch kurz vorher nie
gedacht, dass sie zu solchen Fotos in der Lage wäre. Dann verzog
sich ihr Mund. Dieses Jahr kriegst du trotzdem keinen, Idiot, dachte
sie und schloss die Mail.
Sie machte sich einen weiteren Kaffee.
Dann ging sie zurück an den Rechner. Es hatte keinen Sinn mehr, sie
musste mit Lars reden, es konnte so nicht weitergehen. Ihr Puls fing
immer noch an zu rasen, wenn sie an die Begegnung vorhin im Park
dachte.
Betreff: 1
11: 17 01.12.2012
Lars!
Zu früh gefreut, die 1 steht nicht
für das erste Türchen eines neuen Adventskalenders. Es steht für
Priorität 1! Wir müssen reden! Dieses Wochenende noch! Wann hast Du
Zeit???
Bitte!
Lotte
Lotte wusste, dass Männer bei den
Worten „Wir müssen reden“ Ausschlag bekamen, genau deswegen
hatte sie sie gewählt. Sollte er sich ruhig unter Druck gesetzt
fühlen, letztenendes saß sie doch am längeren Hebel und er würde
nachgeben.
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