Sonntag, 2. Dezember 2012

1

„Die Verzweiflung ist von dünnen Wänden umgeben, die alle ins Laster oder ins Verbrechen führen.“ Les Misérables (1862), Victor Hugo


Lilienweiß und Rosenrot


Samstag, 1. Dezember

Lotte wurde wach und linste auf die Uhr. Kurz vor acht. Sie stöhnte. Da konnte sie mal ausschlafen und dann wurde sie in aller Herrgottsfrühe wach. Es war immer das Gleiche. Sie überlegte kurz, sich einfach nochmal rumzudrehen und zu versuchen weiterzuschlafen, aber es war zwecklos. Schröder hatte gemerkt, dass sie erwacht war und jetzt stand er schwanzwedelnd vor ihr und sah sie erwartungsvoll an. „Na gut“, murmelte Lotte, strich dem Beagle, den sie letztes Jahr aus dem Tierheim geholt hatte, nachdem er aus einem Versuchslabor befreit worden war und nun im Tierheim zu versauern drohte, über den Kopf, während sie sich aus dem Bett quälte.
Sie tapste ins Bad und warf einen Blick in den Spiegel. Ihre schulterlangen, dunklen Locken hatten letzte Nacht ganz offensichtlich noch ohne sie weitergefeiert. Schröder kam ebenfalls ins Bad getapert und sah sie an. Im Gegensatz zu ihr war er höchst motiviert, die warme Wohnung zu verlassen und sich den Weg in den winterlichen Park zu bahnen. Es war gerade mal 1 Grad draußen, wie Lotte beim Blick auf ihr Funkthermometer gesehen hatte. Sie sträubte sich innerlich, ihre warme Wohnung gegen die Kälte einzutauschen, aber es half nichts, der Hund hatte ein dringendes Bedürfnis und sie auch. „Schröder, raus!“, wies sie den Hund aus dem Bad. „Erst bin ich dran, dann geht’s auf in den Park.“
Schröder zeigte Verständnis und trottete aus dem Bad. Lotte schloss grinsend die Tür. Sie war so froh, dass sie ihn letztes Jahr aus dem Tierheim geholt hatte. Zuerst war sie unsicher gewesen, ob sie wirklich genug Zeit für ihn haben würde und sich so eine Verpflichtung nicht als Last erweisen würde. Auch wenn Schröder ein Laborhund gewesen war, so hatte der Tierarzt im Tierheim versichert, er sei abgesehen von der Tatsache, dass er auf einem Auge blind sei, völlig gesund und sie würden noch einige Jahre gemeinsam Freude haben. Eine Bindung für einige Jahre, so etwas war normalerweise nicht ihr Ding, ihre längste Beziehung, wenn man vom klassischen Beziehungsverständnis ausging, hatte gerade mal etwas mehr als ein Jahr gedauert. Aber das konnte man nicht vergleichen, Schröder war zwar ein Männchen, aber treu und nur bis zum nächsten Hundekuchen nachtragend. Aufmerksamkeit brauchte er zwar auch viel, aber dafür bekam sie umso mehr zurück und jedes Mal, wenn sie in seine treuen Augen sah, in die sie sich damals sofort verliebt hatte, auch wenn sie seinerzeit furchtbar traurig dreinblickten, wusste sie, dass sie ihn nie wieder hergeben wollte, selbst wenn sie dafür samstags um acht Uhr morgens hinaus in die Kälte musste.

Als sie aus dem Bad kam, saß Schröder schon an der Wohnungstür. Lotte hatte inzwischen beschlossen, sie könne bei all den anstehenden Weihnachtsleckereien ein wenig im Sinne ihrer Figur vorbeugen und aus dem Spaziergang eine Joggingrunde machen. 65 kg bei 1,68 m waren zwar theoretisch völlig in Ordnung, praktisch hatte sie aber in den letzten Wochen durch diverse durchzechte Nächte zwei Kilo zugenommen und fühlte sich unwohl. Lars interessierte das nicht, er hatte es überhaupt nicht bemerkt, aber ihr selbst fiel es auf und wenn sie sich nicht wohl fühlte in ihrer Haut, strahlte sie es auch aus. Bevor es jetzt im Dezember noch weiter nach oben ging, war also eine Joggingrunde bestimmt eine gute Idee. Sie schlüpfte in ihre wärmsten Laufklamotten, schnürte die Laufschuhe, band sich die wirren Haare zusammen und zog eine warme Mütze tief in die Stirn.
Sie leinte Schröder an und beide machten sich auf den Weg zum Park. Es war immer noch nicht richtig hell und kaum ein Mensch war auf der Straße. Außer zwei älteren Leuten auf dem Weg zum Bäcker und einem Jogger, ebenfalls mit Hund, der bereits auf dem Rückweg war, begegnete Lotte auf dem Weg zum Park keine Menschenseele. Sie war zuerst langsam gelaufen, um überhaupt in Fahrt zu kommen, aber schon jetzt stach die kalte Luft in ihren Lungen. Trotzdem zog sie im Park das Tempo an, sie fühlte sich trotz Schröders Gesellschaft ein wenig unwohl im Halbdunkel zwischen den Bäumen. Noch zehn Minuten, dann ist es richtig hell, redete sie sich innerlich zu. Sie erreichte die Brücke, die über die Militärringstraße zum Geißbockheim und zum Decksteiner Weiher führte, dachte zufrieden an das 1:1 des FC gestern in Berlin und lief stramm weiter in Richtung Weiher. Inzwischen ging es besser, die kalte Luft störte sie nicht mehr beim Atmen und sie bekam richtig Spaß am Laufen. Auch Schröder war offensichtlich happy und so beschloss sie, ein Stück um den Weiher in Richtung Haus am See zu laufen und eventuell sogar eine komplette Runde um den See zu drehen. Bis zum Fort VI war ihr immer noch kein Mensch begegnet, aber wenigstens war es inzwischen ein wenig heller geworden. Lotte beschloss, dass die Runde um den See heute doch noch nicht sein musste und drehte um, irgendwie machte sie diese Einsamkeit heute unruhig. Sie entschied, statt durch den Beethovenpark durch die Kleingartenkolonie zurückzulaufen, vielleicht würde ihr dort jemand begegnen. Kaum war sie in den Weg eingebogen, stürmte Schröder los und raste auf einen anderen Hund zu. Es handelte sich um einen Pekinesen. Davon gab es hier nicht so viele. Lotte rutschte das Herz in die Hose, aber als die Besitzerin mit einer langen blonden Mähne um die Ecke bog, atmete sie auf. Sie war es nicht. Die Hunde beschnüffelten sich kurz, die Frau und sie tauschten ein Lächeln, dann trennten sich ihre Wege wieder.

Zu Hause angekommen sprang Lotte erstmal unter die warme Dusche. Trotz der sportlichen Betätigung fühlte sie plötzlich eine Eiseskälte. Sie ließ das heiße Wasser über ihren Körper gleiten und stand minutenlang einfach nur still unter der heißen Dusche. Ihre Gedanken kreisten. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber eigentlich wusste sie, woher die Kälte stammte. Sie hatte von Anfang an diese diffuse Nervosität gespürt, weil es nicht richtig hell war und dann weil es so einsam war. Zwischendurch hatte sie sich berappelt und dann hatte sie sich fast zu Tode erschrocken, nur weil ein Pekinese um die Ecke kam. Anastasia hatte die Frau den Hund gerufen. Anastasia. Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Gut, Schröder war vielleicht auch nicht jedermanns Hundenamengeschmack, aber einen Pekinesen auch noch Anastasia zu nennen war für sie der absolute Gipfel des schlechten Geschmacks. Passte aber andererseits auch zu diesem Blondchen.
Andererseits, besser Blondchen und Anastasia als Brünette und Hugo. Sie drehte das heiße Wasser ab und brauste sich mit eiskaltem Wasser über die Beine. Sie musste etwas für ihr Bindegewebe tun, dachte sie, während sie vor ihrem geistigen Auge Utes durchtrainierte Schwimmerbeine sah.

Sie kochte sich einen starken Kaffee und gab vier Scheiben Toast in den Toaster, während sie im Kühlschrank nach der Pfifferlingspaste suchte, nach der sie seit einigen Tagen süchtig war. Sie fragte sich, wie diese Dose immer wieder nach hinten durchrutschen konnte. Ihr Kühlschrank war immer ein einziges Chaos, so sehr sie sich auch bemühte, die Dinge strukturiert einzuräumen. Sie wusste wirklich nicht, wie immer alles wieder so durcheinander geraten konnte. Vielleicht besaß sie wirklich ein chaotisches Karma, das auf ihre Umgebung abstrahlte, eine Freundin hatte diese Theorie einmal aufgestellt.

Mit ihrem Frühstück wanderte sie an den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Schröder hatte es sich derweil in seinem Korb bequem gemacht, er genoss es nach dem Training wohl auch, wieder daheim im Warmen zu sein, dachte Lotte.

Sie rief ihre Mails ab. Eine Dealseite wollte ihr eine Schallzahnbürste verkaufen, ein Elektronikmarkt pries ebenfalls seine unschlagbaren Angebote.


Betreff: Morgen
23:05 30.11.2012

Liebe Charlotte,

bis eben brütete ich noch über der Arbeit, da fiel mir plötzlich auf, dass morgen ja der 1. Dezember ist und ich erinnerte mich an den wundervollen Adventskalender, den Du mir letztes Jahr hast zu Teil werden lassen. Ich habe gerade noch einmal durch die Fotos gesehen, Du wunderschönes Mädchen und werde jetzt mit süßen Gedanken an Dich ins Bett gehen.

Fühl Dich umarmt!

Dein Lars



Lotte lächelte. Der Kalender war wirklich ganz großes Kino gewesen. Sie hätte noch kurz vorher nie gedacht, dass sie zu solchen Fotos in der Lage wäre. Dann verzog sich ihr Mund. Dieses Jahr kriegst du trotzdem keinen, Idiot, dachte sie und schloss die Mail.

Sie machte sich einen weiteren Kaffee. Dann ging sie zurück an den Rechner. Es hatte keinen Sinn mehr, sie musste mit Lars reden, es konnte so nicht weitergehen. Ihr Puls fing immer noch an zu rasen, wenn sie an die Begegnung vorhin im Park dachte.



Betreff: 1
11: 17 01.12.2012

Lars!

Zu früh gefreut, die 1 steht nicht für das erste Türchen eines neuen Adventskalenders. Es steht für Priorität 1! Wir müssen reden! Dieses Wochenende noch! Wann hast Du Zeit???

Bitte!

Lotte



Lotte wusste, dass Männer bei den Worten „Wir müssen reden“ Ausschlag bekamen, genau deswegen hatte sie sie gewählt. Sollte er sich ruhig unter Druck gesetzt fühlen, letztenendes saß sie doch am längeren Hebel und er würde nachgeben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen