Donnerstag, 6. Dezember 2012

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Donnerstag, 6. Dezember

Es war halb 4 morgens. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ sich Lotte in die Kissen sinken. Bis eben hatte sie am Rechner gesessen und die letzten Feinheiten ihres Videos bearbeitet, bevor ihr Werk endlich ihren Ansprüchen genügt hatte und die Reise zur Lars antreten konnte. Das Problem war weniger die Tatsache gewesen, dass sie nicht singen konnte, als viel mehr, dass sie ständig lachen musste. Sie hatte Lars bereits letztes Jahr im Rahmen ihres Adventskalenders dieses Video zukommen lassen wollen, aber sie hatte es einfach nicht hinbekommen. Dieses Jahr nun hatte sie rechtzeitig angefangen, den Text von ‚Santa Baby‘ auswendig zu lernen und glücklicherweise gehörte es zu den wenigen Liedern, die sie so singen konnte, dass man das Ergebnis tatsächlich jemandem zumuten konnte. Es war ganz seltsam, bei den meisten Liedern würde jeder behaupten, dass sie nicht singen konnte, aber bei einigen rar gesäten Ausnahmen traf sie tatsächlich den Ton und hatte eine recht passable Stimme. Wunderbarerweise gehörte ‚Santa Baby‘ in dieses Repertoire und so hatte sie nun ihren Plan vom letzten Jahr umgesetzt und für Lars zu Nikolaus ein Video aufgenommen, auf dem sie – ganz unschuldig im weißen Negligé und mit Engelsflügelchen bekleidet – sich lasziv im Kerzenlicht ihrer Weihnachtsdekoration bewegend und unterstützt von der YouTube-Karaoke-Version ‚Santa Baby‘ sang. Sie hatte sage und schreibe 15 Versuche gebraucht, bis sie eine Aufnahme im Kasten hatte, auf der sie weder versehentlich aus dem Bildbereich der Kamera getänzelt war, noch einen Texthänger hatte oder – und das war mit Abstand das häufigste Problem gewesen – mitten im Lied einen Lachanfall bekommen hatte.
Jeder, der sie kannte, hätte sofort die Ironie erkannt, da Lotte kaum Wert auf materielle Dinge legte, auch wenn sie sie durchaus zu schätzen wusste. Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft, die Rolle den Charakter der Sängerin sehr überzeugend zu unternehmen und ihre Darbietung hatte schon fast etwas von „Happy Birthday, Mr. President“ in der Weihnachtsversion. Gerade weil Lotte so überzeugend die materialistische Tussi mimte, hatte sie selbst immer wieder lachen müssen und sie wusste, Lars würde sich ebenfalls köstlich amüsieren, sich gleichzeitig sicher aber auch an den dargebotenen optischen Reizen ergötzen können, wenn er in ein paar Stunden ihre Mail fand, während sie vermutlich noch den Schlaf der Gerechten schlief.



Betreff: Santa Baby…
03:23 06.12.2012

Lieber (?) Lars,

sollte Dir heute der Nikolaus begegnen, würdest Du ihm das freundlicherweise weitergeben? Das wäre wirklich ganz wundervoll von Dir! Ich danke Dir!

Mit den besten Grüßen

Lotte

P.S.: Der Anhang ist natürlich exklusiv für Santa und nicht für Dich, also streng geheim! ;-)

P.P.S: Auf Deine Mail antworte ich, wenn ich wieder wach bin. Mein Wunschzettel hat mich einiges an Nerven gekostet und ich bin gerade zu müde für den Rest. Außerdem möchte ich die Post an Santa nicht mit unangenehmen Themen verhunzen.


*****

Lars war extra um 6 Uhr aufgestanden, es gab viel zu tun, er wollte reinen Tisch haben, bevor er heute Nachmittag die Heimreise nach Köln antrat. So war er schon um 7 Uhr an der Uni und außer ihm war noch niemand auf dem Flur zu sehen. Er kochte sich einen Kaffee im Dozentenzimmer und ging damit in sein Büro. Während der Rechner hochfuhr, warf er einen Blick in die Tageszeitung. Er sah die Champions League Ergebnisse des gestrigen Abends und musste an Charlotte denken. Sie hatte bestimmt geschaut. Manchmal hatte er das Gefühl, es gab kein Spiel, das sie nicht schaute, auch wenn sie das leugnete. Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, er hatte nicht wirklich viel Ahnung von Fußball. Für seinen Geschmack war jedes Spiel eines zuviel, insofern mochte es durchaus möglich sein, dass es noch viele, viele mehr gab.
Endlich war sein Rechner hochgefahren. Er fragte seine Mails ab und sofort stach ihm eine Mail von Charlotte ins Auge. 03:23 Uhr. Er schüttelte grinsend den Kopf. Sie war wirklich eine Nachteule. Einer der wenigen Aspekte, in denen sie grundverschieden waren. Wenn er nicht gerade feiern war, bevorzugte er es, spätestens gegen 23 Uhr ins Bett zu gehen und stand gerne zwischen 6 und 7 Uhr morgens auf, während Charlotte um 23 Uhr erst richtig munter wurde und vor 10 Uhr morgens nur unter Lebensgefahr ansprechbar war.
Er zögerte kurz, ob er die Mail jetzt wirklich öffnen sollte. Er hatte noch eine gute halbe Stunde, bis er mit einem Kollegen verabredet war, um gemeinsam eine Veröffentlichung durchzusprechen. Dabei sollte er konzentriert sein und er hatte seine Zweifel, dass er seine Gedanken nach dem Öffnen der Mail wirklich würde zusammenhalten können, wenn er sich den vielversprechenden Betreff betrachtete und die Tatsache, dass sie einen Anhang enthielt. Doch seine Neugier obsiegte. Nachdem er die Mail gelesen hatte, beschloss er, sich den Anhang bis nach der Besprechung aufzuheben, es hatte keinen Sinn.

Drei Stunden später kehrte Lars endlich in sein Büro zurück. Die Besprechung hatte ewig gedauert, der Kollege hatte ständig neue Thesen hervorgebracht, es hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Schließlich fragte er ihn noch, ob sie nicht gemeinsam zu Mittag essen wollten, aber Lars hatte dankend abgelehnt und sich ungeduldig auf den Weg zurück ins Büro gemacht.
Er fuhr erneut den Rechner hoch und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum, bis der es endlich soweit war, dass er sein Mailprogramm öffnen konnte. Eine weitere Mail von Charlotte ploppte vor ihm auf. Er beschloss, zuerst das Video anzusehen. Immer schön der Reihe nach…

Der Player öffnete sich. Breit grinsend stand Charlotte in einer Art Engelskostümchen im Kerzenschein. Musik erklang, er erkannte die Melodie von ‚Santa Baby‘ und dann fing sie an zu singen und sich genauso lasziv dazu zu bewegen, wie sie die Zeilen betonte. Ihm gingen fast die Augen über. Gleichzeitig musste er immer wieder grinsen, weil er ihr zwischendurch deutlich anmerken konnte, welche Mühe es sie kostete, ernst zu bleiben. Nichts desto trotz war das Ganze hocherotisch, gerade, weil sie sich selbst nicht so ernst nahm. Genau das liebte er so an ihr und es reizte ihn viel mehr, als es eine perfekt inszenierte Darstellung je gekonnt hätte. Er würde das Video irgendwann in einer ruhigen Minute an einem anderen Ort richtig auskosten müssen. Jetzt und im Büro war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort dafür.

Er öffnete ihre zweite Mail.


Betreff: Der unangenehme Part
10:57 06.12.2012

Lieber  Lars,

ich hoffe, der Nikolaus hat Dir etwas Schönes gebracht und Du konntest es genießen und hast meine erste Mail brav weitergeleitet. Dann bist Du ja nun bereit für meine eigentliche Mail…

Also erstmal wegen morgen. Ok, komm um drei zu mir, wie Du es vorgeschlagen hast. Falls sich kurzfristig was ändern sollte, sag mir aber auf dem Handy Bescheid und nicht per Mail. Aber ich möchte jetzt einfach nochmal sagen, dass es mich unendlich nervt, dass wir uns immer nur bei mir treffen können bzw. das für Dich inzwischen anscheinend selbstverständlich geworden ist. Das sollte es nicht so und so sollte es nicht sein. Also für die Zukunft…

So so, Chloé hieß Dein Braten also. Ein schöner Name, tatsächlich. Auf meine Namensliste könnte er es sogar schaffen, allerdings nicht auf’s Podest und außerdem möchte ich nicht an einen Deiner Braten erinnert werden, wenn wir unser Kind rufen. Also Chloé ist raus. ;-)

Was anderes… ich weiß, ich sage immer, ich will gar nicht über dieses Thema reden, aber jetzt muss ich es doch tun. Ich habe gestern in der Uni Ute gesehen. Sie sah grauenvoll aus, die Augen total verquollen, total blass. Ist sie gnadenlos erkältet oder hat sie eine Augenentzündung oder sonst was in der Richtung? Weil falls nicht, würde ich denken, dass sie ziemlich viel geheult haben muss. Kann das sein? Weißt Du was bzw. hattet Ihr Streit? Es geht mir nicht darum, dass ich Details wissen wollte oder sowas, ich wollte einfach nur, dass Du es weißt, falls Du es nicht weißt. Außerdem fand ich es befremdlich, ihr so in der Uni zu begegnen. Und außerdem hatte ich das Gefühl, sie hat mich wieder so komisch angesehen. Vielleicht auch nur, weil ich sie so anstarren musste, aber ich dachte halt, ob sie was weiß?! Lars, ich fand das wirklich erschreckend! Aber über das Thema müssen wir morgen wohl eh nochmal reden…

Lotte


Lars schluckte. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Charlotte war nicht blöd und was sie da von Ute beschrieb, ließ nichts Gutes ahnen. Ute war weder erkältet noch hatte sie eine Augenentzündung, das hätte sie ihm erzählt. Er dachte an die SMS mit dem klagenden Unterton, die er gestern Morgen von ihr erhalten hatte. Sie würde geweint haben. Aber dass sie das Drama jetzt in der Uni zur Schau trug, gefiel ihm gar nicht. Außerdem war er sich unsicher, was ihn heute Abend zu Hause erwarten würde. Aber immerhin hatte sie ihm gestern noch geschrieben, dass sie nun tatsächlich morgen mit Susanne auf den Weihnachtsmarkt gehen würde, insofern war sein Treffen mit Charlotte gesichert. Er musste sich nur noch etwas überlegen, wo er die Stiefel für sie bis morgen unterbrachte, damit Ute sie nicht sah.

Lars hatte am Bahnhof noch einen Strauß roter und weißer Rosen als zusätzliches Nikolausgeschenk für Ute gekauft. Außerdem hatte er das Buch noch schön einpacken lassen und kam nun vollbeladen zu Hause an. Bevor er das Haus betrat, ging er noch schnell in die Garage, um den Karton mit den Stiefeln für Charlotte im Kofferraum seines Wagens zu deponieren.
Als er die Wohnung betrat, sah er Ute auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen. Sie sah blass und traurig aus, doch als sie ihn erblickte, hellten sich ihre Gesichtszüge auf. Sie stürmte ihm entgegen und er überreichte ihr die Blumen und das Geschenk. Sie freute sich wie ein kleines Kind, dem gerade der Nikolaus erschienen war. Dann legte sie die Geschenke beiseite und schmiegte sich in seine Arme. Er hielt sie fest und drückte sie und plötzlich merkte er, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Er spürte erneut das beklemmende Gefühl, was ihn bereits heute Morgen beim Lesen von Charlottes Mail befallen hatte.
„Was ist denn los?“, fragte er sie und sich ihr die Tränen von der Wange.
„Nichts.“, sagte sie. „Nichts. Alles gut, ich habe Dich nur so vermisst.“
Sie löste sich aus seiner Umarmung und ging, um die Blumen ins Wasser zu stellen.

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