Donnerstag, 6.
Dezember
Es war halb 4 morgens. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ
sich Lotte in die Kissen sinken. Bis eben hatte sie am Rechner gesessen und die
letzten Feinheiten ihres Videos bearbeitet, bevor ihr Werk endlich ihren
Ansprüchen genügt hatte und die Reise zur Lars antreten konnte. Das Problem war
weniger die Tatsache gewesen, dass sie nicht singen konnte, als viel mehr, dass
sie ständig lachen musste. Sie hatte Lars bereits letztes Jahr im Rahmen ihres
Adventskalenders dieses Video zukommen lassen wollen, aber sie hatte es einfach
nicht hinbekommen. Dieses Jahr nun hatte sie rechtzeitig angefangen, den Text
von ‚Santa Baby‘ auswendig zu lernen und glücklicherweise gehörte es zu den
wenigen Liedern, die sie so singen konnte, dass man das Ergebnis tatsächlich
jemandem zumuten konnte. Es war ganz seltsam, bei den meisten Liedern würde
jeder behaupten, dass sie nicht singen konnte, aber bei einigen rar gesäten
Ausnahmen traf sie tatsächlich den Ton und hatte eine recht passable Stimme.
Wunderbarerweise gehörte ‚Santa Baby‘ in dieses Repertoire und so hatte sie nun
ihren Plan vom letzten Jahr umgesetzt und für Lars zu Nikolaus ein Video
aufgenommen, auf dem sie – ganz unschuldig im weißen Negligé und mit
Engelsflügelchen bekleidet – sich lasziv im Kerzenlicht ihrer
Weihnachtsdekoration bewegend und unterstützt von der YouTube-Karaoke-Version ‚Santa
Baby‘ sang. Sie hatte sage und schreibe 15 Versuche gebraucht, bis sie eine Aufnahme
im Kasten hatte, auf der sie weder versehentlich aus dem Bildbereich der Kamera
getänzelt war, noch einen Texthänger hatte oder – und das war mit Abstand das
häufigste Problem gewesen – mitten im Lied einen Lachanfall bekommen hatte.
Jeder, der sie kannte, hätte sofort die Ironie erkannt, da
Lotte kaum Wert auf materielle Dinge legte, auch wenn sie sie durchaus zu
schätzen wusste. Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft, die Rolle den
Charakter der Sängerin sehr überzeugend zu unternehmen und ihre Darbietung
hatte schon fast etwas von „Happy Birthday, Mr. President“ in der
Weihnachtsversion. Gerade weil Lotte so überzeugend die materialistische Tussi
mimte, hatte sie selbst immer wieder lachen müssen und sie wusste, Lars würde
sich ebenfalls köstlich amüsieren, sich gleichzeitig sicher aber auch an den
dargebotenen optischen Reizen ergötzen können, wenn er in ein paar Stunden ihre
Mail fand, während sie vermutlich noch den Schlaf der Gerechten schlief.
Betreff: Santa Baby…
03:23 06.12.2012
Lieber (?) Lars,
sollte Dir heute der Nikolaus begegnen, würdest Du ihm
das freundlicherweise weitergeben? Das wäre wirklich ganz wundervoll von Dir!
Ich danke Dir!
Mit den besten Grüßen
Lotte
P.S.: Der Anhang ist natürlich exklusiv für Santa und
nicht für Dich, also streng geheim! ;-)
P.P.S: Auf Deine Mail antworte ich, wenn ich wieder wach
bin. Mein Wunschzettel hat mich einiges an Nerven gekostet und ich bin gerade
zu müde für den Rest. Außerdem möchte ich die Post an Santa nicht mit
unangenehmen Themen verhunzen.
*****
Lars war extra um 6 Uhr aufgestanden, es gab viel zu tun, er
wollte reinen Tisch haben, bevor er heute Nachmittag die Heimreise nach Köln
antrat. So war er schon um 7 Uhr an der Uni und außer ihm war noch niemand auf
dem Flur zu sehen. Er kochte sich einen Kaffee im Dozentenzimmer und ging damit
in sein Büro. Während der Rechner hochfuhr, warf er einen Blick in die
Tageszeitung. Er sah die Champions League Ergebnisse des gestrigen Abends und
musste an Charlotte denken. Sie hatte bestimmt geschaut. Manchmal hatte er das
Gefühl, es gab kein Spiel, das sie nicht schaute, auch wenn sie das leugnete.
Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, er hatte nicht wirklich viel Ahnung
von Fußball. Für seinen Geschmack war jedes Spiel eines zuviel, insofern mochte
es durchaus möglich sein, dass es noch viele, viele mehr gab.
Endlich war sein Rechner hochgefahren. Er fragte seine Mails
ab und sofort stach ihm eine Mail von Charlotte ins Auge. 03:23 Uhr. Er
schüttelte grinsend den Kopf. Sie war wirklich eine Nachteule. Einer der
wenigen Aspekte, in denen sie grundverschieden waren. Wenn er nicht gerade
feiern war, bevorzugte er es, spätestens gegen 23 Uhr ins Bett zu gehen und
stand gerne zwischen 6 und 7 Uhr morgens auf, während Charlotte um 23 Uhr erst
richtig munter wurde und vor 10 Uhr morgens nur unter Lebensgefahr ansprechbar
war.
Er zögerte kurz, ob er die Mail jetzt wirklich öffnen
sollte. Er hatte noch eine gute halbe Stunde, bis er mit einem Kollegen
verabredet war, um gemeinsam eine Veröffentlichung durchzusprechen. Dabei
sollte er konzentriert sein und er hatte seine Zweifel, dass er seine Gedanken
nach dem Öffnen der Mail wirklich würde zusammenhalten können, wenn er sich den
vielversprechenden Betreff betrachtete und die Tatsache, dass sie einen Anhang
enthielt. Doch seine Neugier obsiegte. Nachdem er die Mail gelesen hatte,
beschloss er, sich den Anhang bis nach der Besprechung aufzuheben, es hatte
keinen Sinn.
Drei Stunden später kehrte Lars endlich in sein Büro zurück.
Die Besprechung hatte ewig gedauert, der Kollege hatte ständig neue Thesen
hervorgebracht, es hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Schließlich fragte er ihn
noch, ob sie nicht gemeinsam zu Mittag essen wollten, aber Lars hatte dankend
abgelehnt und sich ungeduldig auf den Weg zurück ins Büro gemacht.
Er fuhr erneut den Rechner hoch und trommelte ungeduldig mit
den Fingern auf dem Tisch herum, bis der es endlich soweit war, dass er sein
Mailprogramm öffnen konnte. Eine weitere Mail von Charlotte ploppte vor ihm
auf. Er beschloss, zuerst das Video anzusehen. Immer schön der Reihe nach…
Der Player öffnete sich. Breit grinsend stand Charlotte in
einer Art Engelskostümchen im Kerzenschein. Musik erklang, er erkannte die
Melodie von ‚Santa Baby‘ und dann fing sie an zu singen und sich genauso lasziv
dazu zu bewegen, wie sie die Zeilen betonte. Ihm gingen fast die Augen über.
Gleichzeitig musste er immer wieder grinsen, weil er ihr zwischendurch deutlich
anmerken konnte, welche Mühe es sie kostete, ernst zu bleiben. Nichts desto
trotz war das Ganze hocherotisch, gerade, weil sie sich selbst nicht so ernst
nahm. Genau das liebte er so an ihr und es reizte ihn viel mehr, als es eine
perfekt inszenierte Darstellung je gekonnt hätte. Er würde das Video irgendwann
in einer ruhigen Minute an einem anderen Ort richtig auskosten müssen. Jetzt
und im Büro war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort dafür.
Er öffnete ihre zweite Mail.
Betreff: Der unangenehme Part
10:57 06.12.2012
Lieber Lars,
ich hoffe, der Nikolaus hat Dir etwas Schönes gebracht
und Du konntest es genießen und hast meine erste Mail brav weitergeleitet. Dann
bist Du ja nun bereit für meine eigentliche Mail…
Also erstmal wegen morgen. Ok, komm um drei zu mir, wie
Du es vorgeschlagen hast. Falls sich kurzfristig was ändern sollte, sag mir
aber auf dem Handy Bescheid und nicht per Mail. Aber ich möchte jetzt einfach
nochmal sagen, dass es mich unendlich nervt, dass wir uns immer nur bei mir
treffen können bzw. das für Dich inzwischen anscheinend selbstverständlich
geworden ist. Das sollte es nicht so und so sollte es nicht sein. Also für die
Zukunft…
So so, Chloé hieß Dein Braten also. Ein schöner Name,
tatsächlich. Auf meine Namensliste könnte er es sogar schaffen, allerdings
nicht auf’s Podest und außerdem möchte ich nicht an einen Deiner Braten
erinnert werden, wenn wir unser Kind rufen. Also Chloé ist raus. ;-)
Was anderes… ich weiß, ich sage immer, ich will gar nicht
über dieses Thema reden, aber jetzt muss ich es doch tun. Ich habe gestern in
der Uni Ute gesehen. Sie sah grauenvoll aus, die Augen total verquollen, total blass.
Ist sie gnadenlos erkältet oder hat sie eine Augenentzündung oder sonst was in
der Richtung? Weil falls nicht, würde ich denken, dass sie ziemlich viel
geheult haben muss. Kann das sein? Weißt Du was bzw. hattet Ihr Streit? Es geht
mir nicht darum, dass ich Details wissen wollte oder sowas, ich wollte einfach
nur, dass Du es weißt, falls Du es nicht weißt. Außerdem fand ich es
befremdlich, ihr so in der Uni zu begegnen. Und außerdem hatte ich das Gefühl,
sie hat mich wieder so komisch angesehen. Vielleicht auch nur, weil ich sie so
anstarren musste, aber ich dachte halt, ob sie was weiß?! Lars, ich fand das
wirklich erschreckend! Aber über das Thema müssen wir morgen wohl eh nochmal
reden…
Lotte
Lars schluckte. Er
hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Charlotte war nicht blöd und was
sie da von Ute beschrieb, ließ nichts Gutes ahnen. Ute war weder erkältet noch
hatte sie eine Augenentzündung, das hätte sie ihm erzählt. Er dachte an die SMS
mit dem klagenden Unterton, die er gestern Morgen von ihr erhalten hatte. Sie
würde geweint haben. Aber dass sie das Drama jetzt in der Uni zur Schau trug,
gefiel ihm gar nicht. Außerdem war er sich unsicher, was ihn heute Abend zu
Hause erwarten würde. Aber immerhin hatte sie ihm gestern noch geschrieben,
dass sie nun tatsächlich morgen mit Susanne auf den Weihnachtsmarkt gehen
würde, insofern war sein Treffen mit Charlotte gesichert. Er musste sich nur
noch etwas überlegen, wo er die Stiefel für sie bis morgen unterbrachte, damit
Ute sie nicht sah.
Lars hatte am
Bahnhof noch einen Strauß roter und weißer Rosen als zusätzliches
Nikolausgeschenk für Ute gekauft. Außerdem hatte er das Buch noch schön
einpacken lassen und kam nun vollbeladen zu Hause an. Bevor er das Haus betrat,
ging er noch schnell in die Garage, um den Karton mit den Stiefeln für
Charlotte im Kofferraum seines Wagens zu deponieren.
Als er die Wohnung
betrat, sah er Ute auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen. Sie sah blass und traurig
aus, doch als sie ihn erblickte, hellten sich ihre Gesichtszüge auf. Sie
stürmte ihm entgegen und er überreichte ihr die Blumen und das Geschenk. Sie
freute sich wie ein kleines Kind, dem gerade der Nikolaus erschienen war. Dann
legte sie die Geschenke beiseite und schmiegte sich in seine Arme. Er hielt sie
fest und drückte sie und plötzlich merkte er, dass ihr die Tränen über das
Gesicht liefen. Er spürte erneut das beklemmende Gefühl, was ihn bereits heute
Morgen beim Lesen von Charlottes Mail befallen hatte.
„Was ist denn los?“, fragte er sie und sich ihr die Tränen von der Wange.
„Was ist denn los?“, fragte er sie und sich ihr die Tränen von der Wange.
„Nichts.“, sagte
sie. „Nichts. Alles gut, ich habe Dich nur so vermisst.“
Sie löste sich aus
seiner Umarmung und ging, um die Blumen ins Wasser zu stellen.
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