Donnerstag, 13. Dezember 2012

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Donnerstag, 13. Dezember

Lotte hatte nicht schlafen können. Als sie um kurz nach Mitternacht ins Bett gegangen war, war immer noch keine Mail von Lars gekommen, was sie extrem nervte, auch wenn es keinen unmittelbaren Grund zur Beunruhigung mehr gab. Aber die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie er auf ihre Mail mit dem Lippenstiftfleck reagieren würde, nachdem sie es ihm am Telefon nicht mehr hatte sagen können, raubte ihr den Schlaf. Nachdem sie um 2 Uhr immer noch nicht geschlafen hatte, war sie erneut aufgestanden, um nachzusehen, ob vielleicht doch noch eine Mail gekommen war, auch wenn sie annahm, dass Lars längst schlief. Es war keine da. Kurzentschlossen entschied sie, ihm eine weitere Mail zu schicken. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, wenn man nicht einschlafen könne, solle man sich seine Sorgen von der Seele schreiben.



Betreff: Insomnia
Von: Anne-P.De-Mon@hotmail.de
An: L.Laslandes@koelnmail.de
02:21 13.12.2012

Lieber Lars,

ich kann nicht schlafen, weil ich auf eine Antwort von Dir warte, die bisher ausblieb. Deswegen schreibe ich Dir nun, vielleicht kann ich danach schlafen. Meine Oma hat immer gesagt, man muss sich seine Sorgen von der Seele schreiben, dann kann man auch einschlafen. Ich konnte Dir vorhin am Telefon nicht mehr sagen, dass ich Dir geschrieben habe, dass Du diesen Lippenstiftfleck am Hals hattest am Freitag. Jetzt wenn Du das liest weißt Du das natürlich, weil Du es bereits in der anderen Mail gelesen hast. Aber es macht mir gerade Sorgen, wie Du darauf reagieren wirst. Ich wollte Dir nur nochmal sagen, dass es mir leid tut. Ich hätte Dir das sagen sollen und Dich nicht damit gehen lassen. Aber ich gebe zu, ich hatte eben ein bisschen auf das Schicksal gehofft und gedacht, vielleicht sieht sie es und alles fliegt auf und das Versteckspiel hat endlich ein Ende. Ich war einfach so traurig in dem Moment, dass ich Dich wieder gehen lassen musste und dass Du mit ihr auf den Weihnachtsmarkt gehst und nicht mit mir. Ich weiß, das war dumm von mir. Aber es ist einfach so doof, dass wir nie was zusammen machen können außerhalb meiner Wohnung. Oder eben ganz vielleicht mal im Dunkeln mit den Hunden zufällig im Park treffen. Super… vorallem, wenn man danach dann so Schiss haben muss, weil Ute plötzlich komische Dinge macht. Es ätzt mich einfach an. Ich würde so gerne einfach mal schön mit Dir in der Stadt essen gehen können oder ins Theater oder einfach nur ein Glas Wein trinken. Aber nein, es könnte uns ja jemand sehen. Kannst Du Dir eigentlich vorstellen, wie beschissen das ist?
Es tut mir leid, ich weiß ja, es hat alles einen guten Grund und Du kannst auch nicht viel dafür, aber es nervt mich gerade. Ich will auch gar nicht klammern und eigentlich bin ich gar nicht so, weißt Du ja. Keine Ahnung, vielleicht frustriert es mich gerade, weil die ganzen Umstände so blöd sind.
Lars, ich hätte Dich einfach so gerne richtig. Ich möchte mit Dir ausgehen können, mit Dir im Hellen mit den Hunden spazieren gehen, Dich an der Uni nicht siezen müssen und – ich möchte so gerne endlich mit Dir schlafen!

Lars bitte, das ist doch alles kein Zustand. Tu mir das nicht länger an. Und Ute auch nicht. Sie ist doch nur glücklich, weil sie in einer Scheinwelt lebt. Falls sie überhaupt noch glücklich ist und diese Welt nicht schon längst verlassen hat. Aber es wird doch alles nicht besser, nur weil wir es in die Länge ziehen.

Lotte

PS: Ich glaube, ich liebe Dich.
PPS: (Und ich glaube, ich hätte das besser weiterhin für mich behalten.)



Lotte schickte die Mail ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Jetzt konnte sie erst recht nicht mehr schlafen.

*****

Lars wälzte sich im Bett herum. Die Techniker in der Uni hatten das Internetproblem bis zum Abend nicht behoben bekommen, so dass er weder Charlottes Mails lesen noch ihr die versprochene Mail hatte senden können. Stattdessen hatte er den Abend damit zugebracht, in seinem Apartment eine Flasche Rotwein zu leeren und nebenher versucht, sich auf die Korrektur einer Seminararbeit zu konzentrieren, was sich als aussichtsloses Unterfangen erwiesen hatte. Er war gerad einmal drei Seiten weitergekommen. Als er durch den Rotwein die nötige Bettschwere hatte, war er in die Federn gesunken, aber nach einer Stunde Schlaf wieder wachgeworden und konnte seitdem nicht mehr einschlafen. Er machte sich Gedanken über Charlottes Theorie, dass Ute das Stipendium nur vorgeschoben hatte. Was war, wenn Charlotte wirklich Recht hatte? Außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Charlotte so aufgelöst gewesen war am Telefon. Er wollte nicht, dass sie unter der Beziehung litt. Allerdings befürchtete er, sie würde durch die ausbleibende Mail seinerseits bereits wieder leiden. Er hätte ihr wenigstens eine SMS schicken sollen, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Er war so ein Idiot. Es war aber auch dumm, dass er ihre Mails nicht lesen konnte, er wollte wissen, was darin stand. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mit seinem Handy auch irgendwie ins Internet konnte. Normalerweise nutzte er diese Funktion nicht, er war sowieso kein großer Handyfreund. Er hatte keine Ahnung, was es ihn kosten würde im Ausland das Internet aufzurufen, aber er ahnte nichts Gutes. Es war ihm egal, er musste diese Mails lesen. Leider war der Empfang mehr als schlecht, so dass er eine Viertelstunde und drei Anläufe brauchte, bis er endlich seine Mails vor sich sah. Ganz oben entdeckte er eine Mail von Charlotte, die sie ihm erst vor einer Stunde geschrieben hatte. Sie war im Gegensatz zu ihm eine Nachteule. Er öffnete sie zuerst und spürte plötzlich wieder dieses seltsam dumpfe Gefühl in der Magengegend. Sie konnte also auch nicht schlafen. Das war allerdings das geringste Problem. Er hatte also am Freitag einen Lippenstiftfleck am Hals gehabt. Im ersten Moment stieg Ärger in ihm auf, dass sie ihn damit aus dem Haus gelassen hatte. Aber eigentlich konnte er es ihr nicht übelnehmen. Sie schrieb so offen ihre Beweggründe und er konnte sie nachvollziehen. Sie hatte ja Recht. Es war furchtbar, dass sie nicht einfach tun und lassen konnten, wonach ihnen der Sinn stand und es war an ihm, es zu ändern. Aber es ging nicht. Nicht jetzt. Sie wusste es selbst und er durfte sich nicht aus der Fassung bringen lassen, nur weil es gerade ein paar Schwierigkeiten gab.
Es war ihm zu mühselig, über das Handy auf die Mails zu antworten, er würde ihr eine SMS schreiben. Vielleicht war sie ja noch wach. Morgen früh würde außerdem das Internet in der Uni wieder funktionieren, das hatte man ihm versichert.
Während er grübelte, was er ihr schreiben konnte, übermannte ihn erneut das schlechte Gewissen. Er wollte nicht, dass sie litt und sie hatte ja Recht, dass es an ihm lag und er etwas ändern musste. Er musste ihr wenigstens seinen guten Willen zeigen, wenn er schon gerade nichts an der Situation ändern konnte. Außerdem musste er sich eingestehen, dass es ihn wahnsinnig gerührt hatte, dass sie das erste Mal überhaupt geschrieben hatte, dass sie ihn liebte. Er wusste, dass Charlotte in der Regel sehr sparsam damit war, ihre Gefühle zu zeigen. Die Tatsache, dass sie mit ihm schlafen wollte, hatte ihn auch nicht kalt gelassen. Auch wenn das natürlich nichts Neues für ihn war, so hatte es in diesem Kontext natürlich eine ganz andere Bedeutung und er spürte plötzlich ein wahnsinniges Verlangen danach, sie einfach nur in den Armen zu halten und zu drücken. Das hier war schon längst soviel mehr als nur irgendeine Nummer. Plötzlich kam ihm eine Idee. Es war ihm völlig egal, wie absurd und eventuell auch risikoreich sie im Bezug auf Ute war, er wollte es jetzt und er würde es tun. Er musste Charlotte zeigen, dass er es ernst meinte, auch wenn er gerade nichts an der Situation ändern konnte und außerdem wollte er auch mit ihr ausgehen und vorallem mit ihr schlafen können. Er blickte auf den Radiowecker, dessen rote Ziffern 05:25 anzeigten. Kurzentschlossen griff er zum Handy und rief Charlotte an. Nach dem fünften Klingeln landete er auf ihrer Mailbox. Er legte auf. Natürlich, sie machte das Handy nachts immer auf lautlos. Er suchte nach ihrer Festnetznummer und wählte sie an. Nach dem vierten Klingeln wurde abgenommen.

„Hallo?!“
„Charlotte, hier ist Lars.“
„Lars, bist Du wahnsinnig? Ich dachte, es ist was passiert, ich hab doch immer Angst, es ist was mit Oma, wenn um die Uhrzeit… Lars, scheiße, ist mit dir was nicht in Ordnung? Ist was passiert?!“
„Alles ist gut, Lottchen, beruhige dich.“
„Bist du betrunken, Lars? Warum rufst du um die Uhrzeit an? Und warum zum Teufel nennst du mich Lottchen?“
„Nein, entschuldige. Ich bin nicht betrunken. Und mit Lottchen wollte ich dich beruhigen. Dumm von mir.“
„Was ist denn los? Du rufst doch sonst nicht an und schon gar nicht um die Zeit.“
„Charlotte, ich habe gerade deine Mails gelesen. Über Handy. Das Internet war noch kaputt und ich konnte nicht schlafen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, du machst dir bestimmt wieder Sorgen…“
„Und jetzt bist du sauer wegen dem Lippenstift und deswegen rufst du an?!“
„Nein, Charlotte, ich bin nicht sauer. Erst war ich kurz sauer, aber dann konnte ich dich verstehen. Und du hast ja Recht mit dem, was du schreibst. Es tut mir leid, dass wir gerade so viele Dinge nicht machen können und ich habe ein schlechtes Gewissen und deswegen rufe ich an.“
„Um mir zu sagen, dass du ein schlechtes Gewissen hast, schepperst du mich um 5 Uhr morgens aus dem Bett?“
Lars musste lachen.
„Nicht nur deswegen. Ich wollte es wiedergutmachen. Ich wollte gerne mit dir in Ruhe in der Stadt essen gehen und mit dir schlafen und dich in den Arm nehmen und alles tun, wonach uns der Sinn steht.“
„Lars, du bist doch betrunken, oder?“
„Nein, ich bin nicht betrunken. Lotte, komm zu mir. Setz dich in den Thalys und komm nach Paris. Ich bleibe einfach einen Tag länger als geplant und wir machen uns einen schönen Tag. Wir fahren dann gemeinsam am Freitag Abend nach Hause. Was meinst du?“
„Du bist verrückt, das geht doch nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ich Uni habe, weil ich den Hund habe, weil ich mir das Ticket nicht leisten kann, weil Ute dir noch viel mehr auf’s Dach steigen wird, wenn du einfach länger in Paris bleibst. Noch Fragen?“
„Den Hund gibst du deiner Nachbarin, die freut sich bestimmt. Das Geld für das Ticket bekommst du von mir direkt wieder, sobald du in Paris bist. Ute lässt du mal meine Sorge sein, das kriege ich schon hin. Paris wirkt im Zweifel glaubwürdiger als eine Verspätung auf dem Weihnachtsmarkt. Und mit der Uni – wieviel musst du sausen lassen?“
„Ich hab zwei Vorlesungen heute, Freitag habe ich nichts. Aber ich darf in den Vorlesungen nicht mehr fehlen, mein Kontingent ist erschöpft und…“
„Bei wem sind die Vorlesungen?“
„Azur und Dupont.“
„Ich regel das. Dupont gehört zum Club, den habe ich auch schon öfter gedeckt, der schuldet mir noch einen Gefallen. Und der kann dann auch gleich der Azur sagen, dass du wegen einer Prüfungsvorbesprechung bei ihm nicht zu ihrer Vorlesung kommen konntest. Traurig, aber der Termin ließ sich nicht ändern. Das macht der Charles, keine Sorge.“
„Ja, aber…“
„Nichts aber. Lotte, bitte, komm nach Paris.“
„Du nennst mich Lotte.“
„Ich dachte, du hörst dann vielleicht eher auf mich.“
Jetzt mussten sie beide lachen.
„Lars, das ist doch der absolute Wahnsinn. Ich kann das nicht machen und ich will auch nicht, dass du meine Tickets bezahlst und überhaupt.“
„Hast du nicht vorhin noch geschrieben, dass du mit mir ausgehen können möchtest? Charlotte, wir könnten so einen wunderschönen Tag hier in Paris haben. Und eine wunderschöne Nacht. Ich möchte neben dir aufwachen, ich möchte, dass du in meinen Armen wach wirst, ich möchte bestimmt auch mit dir schlafen, aber wenn du das nicht willst, werde ich auch nichts machen. Bitte Lotte, bring den Hund unter und komm nach Paris.“
„Lars, du bist doch irre.“
„Ich vermisse dich.“
„Also gut, ich gucke gleich, wenn wir eine Zeit haben, zu der ich bei Frau Klein klingeln kann, ob sie bereit wäre, den Hund bis morgen Abend zu nehmen. Wenn ja, komme ich. Wenn nein, belasse ich es dabei, dann ist es Schicksal.“
„Ich freu mich auf dich!“
„Freu dich nicht zu früh!“
„Bis gleich!“
„Spinner!“

Lars hatte keinerlei Bedenken, dass die alte Dame den Hund nicht nehmen könnte. Die würde sich doch über Gesellschaft freuen. Er stellte sich den Wecker auf 7 Uhr und schlief ein.

*****

Lotte hatte nach dem Telefonat mit Lars nicht mehr schlafen können. Sie war sich nach wie vor nicht sicher, was sie von der Idee halten sollte, aber die Verlockung war zu groß. Sie strahlte schon bei dem Gedanken daran, dass sie ihn gleich eventuell über 24 Stunden für sich allein haben würde und sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Um halb acht ging sie schnell mit Schröder eine Runde durch den Park, auf dem Rückweg wollte sie Frau Klein fragen, ob sie ihn nehmen würde.

Es war kein Problem gewesen, die alte Dame hatte sich sehr gefreut, dass Schröder ein bisschen Urlaub bei ihr machte und vollstes Verständnis gezeigt, dass Lotte ihn nicht mit zu ihrer schwangeren Freundin nehmen wollte, die solche Kreislaufprobleme hatte, dass sie erstmal nicht allein bleiben konnte, bis am Freitag Abend ihr Freund endlich bei ihr sein konnte.
So saß Lotte also um kurz vor eins im Thalys nach Paris und freute sich darauf, dass sie drei Stunden später Lars um den Hals fallen konnte.

*****

Gerade als Ute die Haustür aufsperren wollte, hörte sie in der Wohnung das Telefon klingeln. Hastig drehte sie den Schlüssel herum, ließ Hugo von der Leine und stürzte ans Telefon.

„Ute Laslandes.“
„Hallo Schatz, ich bin es.“
„Oh, hallo. Ich bin gerade mit dem Hund zurück. Hast du schonmal probiert?“
„Nein, ich habe das gespürt. Ich spüre doch, wenn mein Engel nach Hause kommt.“
„Du bist so lieb. Ich freu mich, wenn mein Engel heute Abend auch endlich nach Hause kommt.“
„Schatzi, es tut mir leid, deswegen rufe ich an. Es wird später werden, ich kann erst morgen Abend kommen.“
„Was? Aber warum das denn? Wir wollten doch morgen früh ins Gartencenter fahren und einen Weihnachtsbaum kaufen.“
Die Enttäuschung in Utes Stimme war nicht zu überhören.
„Ich weiß, mein Schatz. Es tut mir wahnsinnig leid, aber das machen wir dann am Samstag, ok? Wir hatten hier die letzten Tage immer wieder Internetprobleme an der Uni, schau im Internet nach, es stand sogar in den französischen Medien. Jedenfalls ist hier dadurch Einiges liegengeblieben und wir müssen bis Freitagnachmittag die Prüfungsvorschläge für die kommenden Prüfungen von Institutsseite aus stehen haben, da steht heute um 16 Uhr nochmal eine Besprechung an und morgen Vormittag müssen wir das alles nochmal durchgehen. Es tut mir wirklich leid, ich wusste nicht, dass das hier in Frankreich so anders abläuft als bei uns. Sei mir nicht böse, ja? Dafür machen wir uns ein besonders schönes Wochenende!“
„Natürlich Schatz, das ist ja nicht deine Schuld. Vom Internetausfall bei Euch haben sie im Institut schon gesprochen. Aber morgen Abend bist du da, ja?“
„Natürlich, mein Engel, ich freu mich auf dich. Sonst alles in Ordnung? Geht es dem Hund gut?“
„Ja, alles in Ordnung. Ich liebe Dich.“
„Ich dich auch, mein Schatz. Ich muss jetzt auflegen. Wir hören uns später.“
„Bis dann.“

Enttäuscht legte Ute den Hörer auf. Naja, einen Abend würde sie auch noch alleine durchhalten. Außerdem hatte sie ja Hugo. Sie kniete sich zu ihm hinunter und kuschelte ihr Gesicht in sein Fell.
Vielleicht sollte sie die Gelegenheit nutzen und mal Lars’ Sachen durchsehen, ob sie nicht irgendwo die Handschrift vom Rezept wiederentdeckte oder sonst etwas Verdächtiges. Sie schämte sich allein bei dem Gedanken. Trotzdem ging sie in sein Arbeitszimmer. Sie würde nur mal ein wenig Staub wischen und schauen, wie das Schicksal so spielte.

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