Montag, 10. Dezember 2012

10



Montag, 10. Dezember

Lars hatte seinen Platz im Thalys eingenommen und freute sich heute umso mehr, dass er den Zug und nicht das Flugzeug gewählt hatte, da es am Bahnhof noch voller als sonst gewesen war, weil all die verzweifelten Flieger, die wegen des Streiks nicht wegkamen und die Möglichkeit hatten, auf die Bahn umgestiegen waren.
Eigentlich hatte er sich vorgenommen im Zug zu arbeiten, aber ihm war gerade nicht danach. Ute hatte ihn beim Frühstück auf Charlotte angesprochen und ihm wäre fast sein Brötchen im Hals stecken geblieben. Es war das erste Mal, dass er wirklich Angst hatte, sie könne Bescheid wissen.

„Sag mal, kennst du diese Charlotte Holzheim eigentlich näher?“, hatte sie ihn beiläufig beim Frühstück gefragt.
Er hatte zuerst überlegt, sich dumm zu stellen und zu verneinen, entschied sich dann aber dagegen. Sofort hatte sich eine Nervosität in seiner Magengegend breitgemacht und er hoffte inständig, Ute werde ihm nichts anmerken. Er kaute länger als nötig auf seinem Bissen herum, um Zeit zu gewinnen.
„Ja, warum fragst du?“, erwiderte er mit möglichst ruhiger Stimme, während er sie in seiner Phantasie schon antworten hörte „Weil ich pornographische Bilder von ihr auf deinem Rechner gefunden habe, Du Schwein!“.
„Weil ich mitbekommen habe, dass Professor Deschamps sie auf seiner Liste möglicher Kandidaten für ein Promotionsstipendium vorgeschlagen hat und ich mich frage, ob sie wirklich so gut ist.“, hatte sie geantwortet.
Lars hätte fast versehentlich erleichtert ausgeatmet, hatte sich aber im letzten Moment noch im Griff. Dann hatte er Ute erklärt, dass er Charlotte in seinem Seminar gehabt habe und früher einmal in einer Vorlesung, aber er sich kein abschließendes Urteil über ihre Fähigkeiten erlauben wolle. Der Kollege würde aber sicherlich wissen, was er tue. Sie hatte sich damit zufriedengegeben und das Thema gewechselt.

Obwohl die Frage nach Charlotte vermeintlich harmlos gewesen war, saß Lars der Schreck immer noch in den Knochen. Es war das erste Mal, dass er ein klein wenig nachfühlen konnte, wie Charlotte sich manchmal fühlen musste, wenn sie ihm ihre Angst bezüglich Ute beschrieb. Vielleicht waren diese Bedenken doch nicht so unberechtigt und er unterschätzte Ute. Oder er wurde auch schon langsam paranoid. Wahrscheinlich war er einfach nur doppelt nervös gewesen, weil er Charlotte gestern Abend noch getroffen hatte. Ute war verwundert gewesen, dass er ihr das Gassi gehen gestern Abend abgenommen hatte, aber er hatte gesagt, es sei die Wiedergutmachung dafür, dass sie letztens morgens übernommen hatte und außerdem wolle er nicht, dass sie bei diesem fiesen Wetter noch raus müsse, sie solle lieber weiter leckere Plätzchen backen. Daraufhin hatte sie ihm einen Kuss gegeben und er war mit Hugo losgezogen.

Er wühlte seinen Laptop aus der Tasche und fuhr in hoch, um eine Mail an Charlotte vorzuschreiben, die er abschicken würde, sobald er in Paris wieder online war. Er brauchte eine sinnvolle Ablenkung.


Betreff: Schock am frühen Morgen
Entwurf

Liebe Charlotte,

ich danke Dir nochmal für die köstlichen Plätzchen, eins hatte ich ja gestern Abend direkt gekostet, die anderen warten in meiner Manteltasche auf ihren Einsatz in Paris, ich möchte sie richtig genießen. Genossen habe ich auch unser Treffen gestern Abend. Du bist selbst eingemummelt und im Dunkeln einfach nur bezaubernd und Du hast so gut geduftet, diese Mischung aus Plätzchen und Parfum… Aber genug davon, ich weiß, Du stehst nicht auf solcherlei Gesäusel.

Um zum Betreff dieser Mail zu kommen – heute früh hat mich Ute auf Dich angesprochen! Es war das erste Mal, dass ich Deine Ängste ein wenig nachvollziehen konnte. Ich dachte wirklich im ersten Moment, sie hätte etwas gemerkt, zumal wegen unserer Begegnung gestern Abend. Sie fragte mich, ob wir uns eigentlich näher kennen würden. Kannst Du Dir vorstellen, wie ich mich erschrocken habe? Aber glücklicherweise ging es um etwas Erfreuliches – sie hatte mitbekommen, dass Du für ein Promotionsstipendium vorgeschlagen werden könntest von Professor Deschamps. Wusstest Du schon davon, meine Liebe? Und kannst Du es Dir vorstellen, das zu machen? Ich fände es ja wunderbar, aber ich ahne, dass Du eher skeptisch sein wirst, oder täusche ich mich?

Fühl Dich gedrückt, meine wundervolle intelligente Charlotte!

Dein Lars


*****
Ratlos spazierte Susanne durch den Beethovenpark nach Hause. Sie hatte sich mit Ute getroffen zum gemeinsamen Gassi gehen mit Hugo. Sie hatte gestern Mittag mit Ute telefoniert und sie auf Lars‘ Verspätung am Vorabend angesprochen. Ute hatte sich tatsächlich bis dahin keinerlei Gedanken darüber gemacht, sah dann aber ein, dass er ungewöhnlich lange gebraucht hatte. Auch auf den vermeintlichen Fleck an seinem Hals hatte sie Ute angesprochen, aber ihr war nichts aufgefallen und Susanne war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob sie sich nicht selbst getäuscht hatte.
Was Ute ihr heute beim Spaziergang berichtet hatte, förderte allerdings ihr Misstrauen gegenüber Lars. Ute war es unglaublich unangenehm gewesen, aber sie hatte ihr gebeichtet, dass sie beeinflusst durch ihr Gespräch gestern Lars gestern Abend hinterhergelaufen sei, als er plötzlich gesagt habe, er würde mit dem Hund rausgehen. Es hatte sie misstrauisch gemacht, weil Lars normalerweise laut ihrer Aussage nicht wirklich viel für Hugo übrig hatte und ihn mehr als Spielzeug für sie gekauft hatte, das hatte er in den letzten Monaten wohl immer deutlicher raushängen lassen. Er hatte behauptet, er würde mit dem Hund rausgehen, weil sie es ein paar Tage vorher für ihn übernommen habe und sie solle lieber weiter leckere Plätzchen backen. Ute hatte so getan, als habe sie es ihm abgekauft, in Wahrheit aber war ihr Misstrauen durch diese Aussage weiter gewachsen, da sie genau wusste, dass Lars diese Marmeladenplätzchen, die sie gebacken hatte verabscheute – sie hatte sie genau deswegen gebacken, weil sie so wütend gewesen war nach dem Telefonat. Susanne hatte gedacht, sie höre nicht richtig, das alles hätte sie Ute nie zugetraut. Es war Ute wahnsinnig peinlich gewesen, dass sie Lars hinterhergegangen war, das  konnte Susanne während ihrer Erzählung immer noch spüren und sie sah sie vor sich, wie sie hinter ihm herschlich und ständig Angst hatte, er könnte sie sehen und sie hätte sich am Ende völlig lächerlich gemacht. Aber dann hatte sie tatsächlich beobachtet, wie er sich mit einer Person im Park getroffen hatte. Sie hatte nicht erkennen können, um wen es sich dabei handelte, schließlich war sie weit weg gewesen und es war dunkel und zusätzlich war die Person vermummt gewesen wegen der Kälte. Aber in Anbetracht der Körpergröße hatte Ute angenommen, dass es eine Frau sein musste. Sie konnte auch nicht einschätzen, ob die beiden sich zufällig getroffen hatten oder verabredet waren, aber sie hatten sich zur Begrüßung recht lange umarmt, hatte sie gesagt und seien dann gemeinsam weiterspaziert. Sie hatte auch den Eindruck, dass Hugo dieser Person nicht zum ersten Mal begegnete. Natürlich wäre es möglich gewesen, dass es sich um eine Spaziergängerin handelte, der sie beim Gassi gehen mit Hugo öfter begegneten und Lars deswegen auch gemeinsam mit ihr weiterspazierte, aber das erklärte immer noch nicht die nach Utes Empfinden viel zu lange Umarmung und vor allem auch nicht das kleine Tütchen mit Vanillekipferln, das Ute abends in Lars Manteltasche gefunden hatte und das eigentlich nur von dieser Person stammen konnte. Die Plätzchen waren für sie beide allerdings ein weiteres Argument gewesen, dass es sich dabei um eine Frau gehandelt haben musste.
Ute hatte nicht gewagt, Lars darauf anzusprechen und Susanne hatte auf sie eingeredet, es erstmal zu lassen und weiter die Augen offen zu halten. Natürlich war theoretisch wirklich auch noch eine harmlose Erklärung denkbar. Vielleicht hatte Lars es wirklich nur gut gemeint damit, die Abendrunde zu übernehmen und vielleicht war die Person tatsächlich irgendwer aus der Nachbarschaft gewesen und Ute hatte die Umarmung aufgrund ihrer Anspannung als länger empfunden, als sie wirklich war. Und die Plätzchen… vielleicht war die Person auf dem Heimweg von irgendeiner Weihnachtsfeier und hatte sie geschenkt bekommen, mochte sie aber nicht und hatte sie Lars gegeben. Aber warum hatte Lars dann nichts davon erwähnt, Ute würde die Person doch bestimmt auch kennen und sie hätten sich die Plätzchen teilen können. Oder konnte Lars einfach nur so gierig auf die Vanillekipferl gewesen sein? Susanne musste grinsen. Sie würde es ihm sogar zutrauen und wenn sie ehrlich war, konnte sie ihm nicht übelnehmen, dass er die Marmeladenplätzchen nicht mochte, sie verabscheute sie ebenfalls, hatte sich aber bis heute nicht getraut, es Ute zu sagen. Sie schenkte ihr Tütchen jedes Jahr an ihre Mutter weiter, die der einzige Mensch war, den Susanne kannte, der diese Plätzchen wirklich zu mögen schien.
Sie vermochte sich keinen Reim auf das zu machen, was Ute ihr da erzählt hatte. Einerseits war Susanne bisher immer viel misstrauischer gewesen als Ute, andererseits dachte sie jetzt, wo Ute ihr wirklich konkrete Hinweise lieferte, dass es auch diverse harmlose Erklärungen geben konnte. Auf jeden Fall hielt sie es für richtig, dass Ute geschwiegen hatte und den restlichen Abend so getan hatte, als wäre nichts. Es musste ihr schwer genug gefallen sein, wahrscheinlich war sie fast gestorben vor Angst, dass Lars aufgefallen sein könnte, dass sie mit ihrer Plätzchenproduktion bei seiner Wiederkehr nicht wesentlich weiter gewesen war als bei seinem Abschied, aber natürlich hatte Lars kein Auge für so etwas, das hätte sie ihr sofort sagen können.

3 Kommentare:

  1. HILFE, wo ist Teil 11?
    Ausgerechnet jetzt, wo Ute ihm auf die Schliche kommt und es so spannend wird. Du bist ja gemein ;)
    Wehe, du hörst auf!

    AntwortenLöschen
  2. Wie süß! :)
    Keine Sorge, ich höre nicht auf, ich hatte heute nur eine Prüfung an der Uni und war erst mit der Vorbereitung und dann mit Feiern beschäftigt, deswegen kommt die 11 gleich mit ein wenig Verspätung doch noch... ;)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Gerade noch pünktlich :)

      Ich hoffe deine Prüfung war gut, aber wenn du gefeiert hast, kanns ja kaum schlecht gewesen sein ;)

      Jetzt habe ich leider keine Zeit, in Ruhe zu lesen (mich ruft auch die Uni...), aber dann habe ich heute Abend ja gleich zwei Teile, umso besser!

      Löschen