Sonntag, 20. Januar 2013

Sunday, Bloody Sunday - Sonntag, 20. Januar 2013

Als Lars die Haustüre hinter sich schloss, war er sich sicher, dass er noch nie so erleichtert gewesen war, nach Paris aufbrechen zu können. Nachdem das Wochenende fast perfekt gelaufen war, hatte es gestern Abend einen traurigen Höhepunkt bekommen, dessen Auslöser seine grenzenlose Blödheit gewesen war, anders konnte man es nicht sagen. Seine Geilheit musste seinen Verstand ausgehebelt haben, anders war es nicht zu erklären, wie er so dumm gewesen sein konnte, Ute in der Badewanne zu erwarten. Er hatte die Kratzer auf seinem Rücken völlig vergessen gehabt und sie waren ihm erst wieder eingefallen, als er, nachdem er Ute bewiesen hatte, dass man auch im begrenzten Raum einer Badewanne ziemlich guten Sex haben konnte, aus der Wanne gestiegen war, um ihr ein wenig mehr Platz zur Erholung zu gönnen und ihr beim Blick auf seinen Rücken ein seltsames Geräusch entfahren war. Erschrocken hatte er sich umgedreht und in ihr völlig verzerrtes Gesicht gesehen, als sie ihn bereits angeschrien hatte, was das für Kratzer auf seinem Rücken seien. Er hatte gespürt, wie all sein Blut zurück vom Unterleib in den Kopf schoss und gehofft, wenigstens nicht sichtbar zu erröten. Dann hatte er behauptet, keine Ahnung zu haben und sich selbst die Kratzer im Badezimmerspiegel betrachtet. Ute hatte getobt, geschrien und geheult. Er hatte kaum etwas verstanden von dem, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, so sehr hatte sie dabei geweint. Er hatte versucht sie zu beruhigen und auf sie eingeredet, dass er sich nachts gekratzt haben müsse, ohne es zu merken, vielleicht habe er eine Hausstaubmilbenallergie, aber sie hatte ihm kein Wort geglaubt. Schreiend war sie aus der Wanne gestiegen und ohne sich abzutrocknen auf ihn zugestürzt, hatte ihn angebrüllt und auf seine Brust getrommelt wie ein verzweifeltes kleines Kind. Alle seine Versuche, sie in den Arm zu nehmen oder irgendwie zu beruhigen hatte sie abgewehrt und schließlich hatte sie, diesmal deutlich verständlich und unglaublich laut "Raus!" geschrien und ihn völlig nackt und ohne Handtuch aus dem Badezimmer gestoßen. Nachdem er sich aus dem Schrank mit einem Handtuch und anderer Kleidung versorgt hatte, war er wieder zum Bad gegangen und hatte mit ihr reden wollen, doch sie hatte die Türe verschlossen und gab ihm keine Antwort. Dieser Zustand hatte drei Stunden angedauert. Drei Stunden, in denen er fünf Mal vergeblich vor der Tür gestanden und versucht hatte, mit ihr zu reden. Manchmal hörte er gar nichts, manchmal hörte er sie weinen. Zwischendurch war eine gewisse Panik in ihm aufgestiegen, dass sie sich etwas antun könnte und er sah Bilder vor sich, wie sie mit dem Föhn in der Badewanne lag oder sich mit der Nagelschere die Pulsadern aufgeschlitzt hatte. Es waren grauenvolle drei Stunden gewesen, bis sie endlich aus dem Bad gekommen war. Weiß wie die Wand war sie gewesen, einzig ihre Nasen und ihre Augen waren rotgeweint und dick verquollen. Er hatte sie in den Arm nehmen wollen, aber sie hatte ihn wieder weggestoßen und ihn angeschrien, er solle sie bloß nie wieder anpacken. Er hatte auch noch einmal zu einer Erklärung ausgeholt, aber sie hatte ihm sofort das Wort abgeschnitten und ihn angebrüllt, er solle sich seine verdammten Lügen sparen, sie wolle nichts mehr hören. Danach hatte er es nicht mehr versucht, zumal er ihr zugegebenermaßen keine besonders geistreiche Erklärung für die Kratzer hätte bieten können.
Er hatte überlegt, ob es sinnvoller wäre auf der Couch zu schlafen, dann aber beschlossen, dass das einem Schuldeingeständnis gleichkäme und sich dagegen entschieden. Doch als er zum Schlafzimmer kam, hatte Ute ihm die Entscheidung abgenommen. Es war abgeschlossen. Auf seine Frage, ob sie freundlicherweise wenigstens sein Bettzeug herausgeben könnte, erfolgte keinerlei Reaktion. Er hatte sich dann notdürftig mit einer Tagesdecke und dem Sofakissen ein Lager auf der Couch bereitet, was ihm heute früh unerträgliche Nackenschmerzen als Folge beschert hatte. Zusätzlich quälte ihn ein Kater, der wohl der halben Flasche Whiskey geschuldet war, die er benötigt hatte, um überhaupt einschlafen zu können.
Ute hatte ihn wie Luft behandelt und jegliche Versuche mit ihr zu reden komplett ignoriert. Er hatte schließlich aufgegeben und stattdessen beschlossen, die drei Stunden bis zu seiner Abfahrt in seinem Bett zu verbringen, um wenigstens ein bisschen erholsamen Schlaf zu finden, nachdem die Schlafzimmertür augenscheinlich wieder offen war.
Als er das Schlafzimmer betreten hatte, fand er sein Bettzeug auf dem Boden vor, darauf ein Berg Kleidung von ihm, den Ute aus zwei Fächern aus dem Schrank gewischt hatte. Immerhin lag nicht sein kompletter Schrankinhalt draußen, ausziehen musste er also noch nicht, hatte er zynisch gedacht, während er die Bettwäsche unter der Kleidung hervorzog und sich sein Bett wieder einrichtete. Trotzdem war an Schlaf nicht zu denken gewesen, er hatte maximal 20 Minuten gedöst, wenn überhaupt. Dieser Zustand hatte ihn einfach wahnsinnig gemacht und er hatte keine Idee gehabt, wie er mit Ute sprechen sollte. Ganz abgesehen davon, dass sie offensichtlich ohnehin nicht gewillt war, ihm zuzuhören, wusste er nicht, was er ihr hätte sagen sollen. Natürlich hätte er ihr einfach die Wahrheit sagen können und damit auch gleich den ersten Schritt in Sachen Trennung hinter sich gehabt, aber er fühlte sich nicht bereit dafür. Er wollte das ordentlich machen, nicht jetzt und nicht in so einem Zustand. Es sollte dabei nicht um so ein Dummchen wie Franziska gehen, das wäre viel zu demütigend für Ute. Er brauchte irgendeine glaubhafte Erklärung für diese verdammten Kratzer, davon hing alles ab. Wie hatte er nur so dumm sein können sie zu vergessen?
Die Fragen quälten ihn immer noch, während er im Thalys saß und die verschneite Idylle drau´ßen ans sich vorbeirauschen sah.

*****

Als Lars endlich gegangen war, ließ Ute sich auf's Sofa fallen und begann hemmungslos zu weinen. Sie hatte nicht gewollt, dass er noch mehr Tränen von ihr sah und sich bis jetzt eisern zusammengerissen, aber nun war es vorbei. Die Tränen rannen ihr über die Wangen und sie hatte das Gefühl, als würde es überhaupt nicht mehr aufhören. Sie griff nach dem Kissen und drückte ihr Gesicht hinein - es roch so sehr nach ihm, er hatte letzte Nacht darauf geschlafen. Allein diese  Feststellung führte bei ihr zu noch mehr Tränen, während sie versuchte, seinen Geruch aufzusaugen, als käme er ihr dadurch wieder näher. 
Wie hatte das alles nur passieren können? Das Wochenende war bis zum gestrigen Abend nahezu perfekt gewesen, sie hatten sich richtig gut verstanden und sie hatte sich ihm so nahe gefühlt wie schon lange nicht. Und dann stieg er plötzlich aus der Wanne, nachdem er sie gerade noch geliebt hatte und sie sah diese Kratzer auf seinem Rücken. Es war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt ersticken zu müssen. Für wie blöd hielt er sie, dass er ihr diese Kratzer auch noch so offensichtlich präsentierte? War er etwa stolz darauf? Sie verstand es nicht. Und sie fragte sich die ganze Zeit, wann zum Teufel er Charlotte getroffen haben konnte. Er hatte so wenig alleine unternommen in diesen Tagen, dass sie es fast für unmöglich gehalten hätte. Die einzige plausible Gelegenheit erschien ihr, dass das Treffen am Freitag vorgeschoben gewesen war, aber das konnte nicht sein, schließlich war ihr Charlotte im Park begegnet und demzufolge eindeutig nicht damit beschäftigt gewesen, ihre Krallen in seinen Rücken zu bohren. Aber wann dann? Gestern Vormittag, als sie kurz einkaufen gewesen war oder mit dem Hund draußen? Aber in dieser kurzen Zeit konnte er doch unmöglich bei ihr gewesen sein. Plötzlich hatte sie abermals das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr ganzer Körper bebte, so sehr schluchzte sie. War am Ende Charlotte hier gewesen und sie hatten es in ihrem Ehebett getrieben? Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Es schien ihr die einzig plausible Lösung zu sein.
Blind vor Tränen stürmte sie ins Schlafzimmer, riss die gesamte Bettwäsche herunter und stopfte sie in die Waschmaschine. Bevor sie das Bett neu bezog, nebelte sie die Matratze mit Desinfektionsspray ein. Es war ihr völlig egal, wie sehr das Bett am Ende danach stinken würde, alles war besser als der Geruch von Lars und diesem Flittchen.

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