Dienstag, 22. Januar 2013

Oh, Traité de l' Élysée - Dienstag, 22. Januar 2013

Als der Wecker klingelte, spürte Lars, dass dies ein guter Morgen war. Der gestrige war kein guter Morgen gewesen. Eigentlich war es noch nicht einmal ein Morgen gewesen, er war erst gegen Mittag aus seinem Koma erwacht, nachdem er am Sonntag Abend zur Frustbekämpfung bis der Wirt ihn rausgekegelt hatte in einer Bar versackt war und anschließend zu Hause noch fast eine ganze Flasche Whiskey gesoffen hatte. Es war alles zuviel gewesen, er hatte sich komplett überfordert gefühlt durch Utes Ausraster und der Tatsache, dass er Charlotte nicht mehr viel länger würde vertrösten können. Dem Rest hatte ihm dann am Sonntagabend noch eine SMS von Franziska gegeben. Zwar hatte sie nur geschrieben Wann sehen wir uns wieder?, aber damit war klar gewesen, dass diese Affäre mit dem Treffen am Freitag keineswegs ausgestanden war. Er hatte sich einfach nur noch gewünscht Single zu sein und niemandem mehr überhaupt irgendetwas erklären zu müssen. Aufgrund der faktischen Unmöglichkeit der Erfüllung dieses Wunsches, hatte er seinen Frust dann ertränkt. So übel ertränkt, wie er es seit Jahren nicht getan hatte. Mit dem Erfolg, dass er am Montag den Wecker gar nicht erst gehört und seine eigene Vorlesung verschlafen hatte. Er war erst durch das wiederholte Klingeln seines Handys wieder in die Realität zurückgekehrt, als man von der Uni versuchte, ihn zu erreichen. Es war ihm unendlich peinlich gewesen und er hatte angegeben, mit hohem Fieber im Bett zu liegen, was man ihm offenbar auch geglaubt hatte, seine Stimme hatte vermutlich erbärmlich genug geklungen. Irgendwie war es ihm gelungen, hinunter zur Apotheke im Haus gegenüber zu wanken und sich Kopfschmerztabletten zu besorgen, mit deren Hilfe er sich gegen Abend langsam wieder als Mensch gefühlt hatte. Ungefähr eine Stunde, nachdem er es sogar geschafft hatte, ein wenig von einer Dosensuppe in sich zu behalten, hatte erneut sein Handy geklingelt und der Name Ute war im Display erschienen. Er hatte kurz mit sich gerungen, ob sein Magen und sein Kopf das Telefonat wohl überstehen würden, dann hatte er tapfer den Anruf angenommen. Eigentlich hatte er mit erneuten Tiraden oder Weinkrämpfen am anderen Ende der Leitung gerechnet, doch stattdessen hatte ihn eine kleinlaute Ute um Verzeihung gebeten. Sie habe mir Susanne gesprochen und die habe ihr vor Augen geführt, dass sie völlig überreagiert habe und es keinerlei Grund gebe, an seiner Story zu zweifeln. Lars hatte sein Glück kaum fassen können ausgerechnet von Susanne Schützenhilfe erhalten zu haben. Er hätte Ute beinahe gefragt, wie Susanne ihr die Kratzer erklärt hatte, sich aber gerade noch rechtzeitig eines Besseren besonnen. Stattdessen hatte er großherzig ihre Entschuldigung angenommen und ihr erklärt, froh zu sein, dass sie wieder zu Verstand gekommen sei und dass nun alles wieder gut wäre. Sein Rücken würde übrigens immer noch jucken, er würde wohl mal einen Allergietest machen lassen müssen in den Semesterferien, hatte er am Ende noch angefügt.
Nach dem Telefonat und dem restlichen Teller Suppe, der noch übrig gewesen war, war er mit einem Gefühl des Wohlbehagens in sein Bett gesunken. Alles war wieder gut, auch wenn ihm nicht klar war, wie es dazu hatte kommen können. Aber wenn er Franziska ruhig hielt, würde alles gut werden und er müsste nur noch die Sache mit Charlotte in den Griff kriegen. Und die Trennung von Ute, aber erst einmal musste Ruhe einkehren. Das waren seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen gewesen und nun war er wieder wach, ohne Kater, mit deutlich weniger Sorgen als gestern noch und voller Tatendrang. In der Uni würden sie sich wundern, wie schnell er sich über Nacht von seinem Fieber erholt hatte und heute Abend würde er Lottchen eine richtig schöne Mail schicken. Vielleicht konnten sie ja auch telefonieren...

*****

Utes erstes Gefühl an diesem Morgen war grenzenlose Scham gewesen. Auch wenn Lars ihr versichert hatte, ihr nicht mehr böse zu sein, so war ihr doch klar, dass sie sich nicht mehr allzu viele von solchen ungerechtfertigten Ausbrüchen leisten konnte. Susanne hatte ihr gestern Abend die Augen geöffnet und ihr gehörig den Kopf gewaschen, was für eine paranoide Irre sie geworden sei und dass sie sich zusammenreißen müsse. Und sie hatte Recht. Während ihrer Schilderung der Umstände vom Wochenende hatte Susanne sie immer fassungsloser angesehen und sie am Ende gefragt, ob sie verrückt geworden sei, was sie denn glauben würde, wann Lars Charlotte getroffen haben solle, wenn sie selbst doch im Park vor ihr gestanden hätte, als Lars das einzige Mal länger alleine weg gewesen war. Daraufhin hatte sie Susanne von ihrem Verdacht erzählt, dass Charlotte am Samstag Vormittag bei ihnen gewesen sei, während sie mit Hugo unterwegs und einkaufen war. Susanne hatte sie zweifelnd angesehen und sie dann streng gefragt, wie lange sie denn weg gewesen sei. Kleinlaut hatte sie ihr erklärt, dass sie insgesamt etwa eine Stunde weg gewesen sei, erst zwanzig Minuten auf der Runde mit Hugo, dann kurz zu Hause um ihn abzuladen, um dann noch schnell zum Supermarkt zwei Straßen weiter zu radeln. Susanne hatte zu bedenken gegeben, dass diese Zeit doch recht knapp gewesen sei, zumal ja vorher völlig unklar war, wann genau sie das Haus verlassen würde und Charlotte sicherlich nicht im Gebüsch gelauert und auf ihre Chance gewartet hätte. Dann hatten sie alles durchgerechnet. Selbst wenn Lars Charlotte unmittelbar nach ihrem Aufbruch kontaktiert hätte, wäre alles sehr knapp und risikoreich geworden und als Susanne sie gefragt hatte, ob sie etwa glauben würde, dass Charlotte sich im Schrank versteckt gehalten hätte, als sie Hugo zu Hause abgeladen hatte und Lars im Wohnzimmer über seiner Zeitung gesessen hatte, hatte sie sogar kurz mit ihr mitlachen müssen. Doch dann war Susanne sehr ernst geworden und hatte ihr gesagt, dass sie paranoid sei und Lars sich unmöglich mit Charlotte getroffen haben konnte. Sie solle auch bedenken, dass Lars hochintelligent wäre und niemals einen solchen Fauxpas begangen hätte, sich ihr mit diesen Kratzern in der Badewanne zu präsentieren. Hätte er etwas zu verheimlichen gehabt, hätte er doch versucht, die Kratzer zu verbergen. Ute hatte es schließlich eingeleuchtet. So nüchtern, wie Susanne es ihr vorrechnete, war es völlig unmöglich, dass die Kratzer von Charlotte stammten. Er musste sich wirklich nachts gekratzt haben, wie er es behauptet hatte. Schließlich hatte Susanne ihr gesagt, falls sie Beweise bräuchte, solle sie doch mal in die Bettwäsche schauen, vielleicht würde sie dort Blutspuren finden, wenn er sich so zerkratzt habe. Kleinlaut hatte Ute gemurmelt, dass sie die Wäsche bereits voller Ekel in die Waschmaschine gestopft hatte, weil sie keine Spuren von Charlotte Holzkeim in ihrer Wäsche haben wollte und so jegliche mögliche Blutspuren bereits der Vergangenheit angehörten. Daraufhin hatte Susanne sie nur lachend in den Arm genommen und ihr gesagt, sie müsse cooler werden, aber sie sei bereits besser geworden, der Rest vom Wochenende habe doch gut geklappt und nun müsse sie sich schleunigst bei Lars für ihre Szene entschuldigen, sonst würde sie ihn wirklich noch Charlotte in die Arme treiben. 
Ute war gleich nach Hause gefahren, um Lars anzurufen und hatte vor Erleichterung fast zu Weinen begonnen, als er nach dem fünften Klingeln endlich abgenommen hatte. Sie hatte befürchtet, er würde am Ende gar nicht rangehen, verdient hätte sie es gehabt, aber er war sehr ruhig und freundlich gewesen und hatte ihr sofort verziehen. Vielleicht hatte er ja auch ein ganz klein wenig ein schlechtes Gewissen gehabt, immerhin war er ja nicht völlig unschuldig, sondern nur in diesem Fall. Trotzdem war sie unendlich erleichtert gewesen, dass nun alles wieder gut war. Zumindest hoffte sie das. Schämen für ihr Verhalten tat sie sich aber immer noch. Sie würde sich an diesem Wochenende noch mehr Mühe geben müssen, um den Ausgang des letzten wiedergutzumachen.

*****

Als Lotte am Abend ihre Mails abfragte, war endlich die ersehnte Post von Lars da. Freudestrahlend öffnete sie die Mail. Das war genau das Richtige, nachdem sie sich stundenlang mit ihrem Nachhilfeschüler herumgeärgert hatte, der einfach überhaupt nichts hatte verstehen wollen heute.



Betreff: 50
Von: L.Laslandes@koelnmail.de
 
An: Anne-P.De-Mon@hotmail.de
16:59 22.01.2013

Liebe Charlotte,

entschuldige, dass ich so lange habe auf mich warten lassen, ich war sehr im Stress und gesundheitlich auch ein wenig angeschlagen, dadurch wurde es nicht besser. Zu allem Übel hat Ute auch noch rumgenervt - ich bin wirklich froh, wenn das alles vorüber ist.

Aber nun zu erfreulicheren Dingen. Heute ist der 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages, das ist Dir sicherlich bekannt. Auch hier in Paris wird gefeiert und auch im Institut, ich werde gleich noch bei den Feierlichkeiten vorbeischauen und freue mich sehr auf's Buffet. Eigentlich hatte ich heute mit Dir telefonieren wollen, aber das wird alles zu eng, ich muss mich vorher noch ein wenig aufhübschen, dort sollte ich im Anzug erscheinen. Vielleicht können wir ja morgen Abend einmal telefonieren, hast Du Zeit? Ich hätte sehr gerne die deutsch-französische Freundschaft mit Dir hier gefeiert, meine Liebe. Mit wem wäre es passender gewesen? Schade, dass Du nicht hier bist, wirklich. Ich bin mir sicher, wir hätten den Feierlichkeiten zu einem ganz besonderen Höhepunkt verholfen, bzw. Du mir, auf Französisch.

Ich werde an Dich denken, gleich auf der Feier. Ich kriege Dich sowieso nicht aus dem Kopf. Dein ominöses Weihnachtsgeschenk übrigens auch nicht - magst Du mir nicht ein weiteres Hinweisfoto senden? Vielleicht eins, mit dem ich dann diesen historischen Abend gebührend ausklingen lassen kann?

Ganz bei Dir

Lars



Lotte schüttelte den Kopf. Was war er bloß für ein geiler Bock. Trotzdem liebte sie ihn, oder gerade dafür. Mal sehen, vielleicht würde sie sich noch etwas für ihn einfallen lassen. Jetzt musste sie erstmal mit Schröder seine Runde drehen und danach hatte sie Frau Klein versprochen, ihr beim Aufhängen eines Bildes zu helfen. Erfahrungsgemäß lud die alte Dame sie nach solchen Diensten noch auf ein Glas Wein ein. Vielleicht würde sie das zu einem Foto für Lars inspirieren. Auch wenn es kaum ein passenderes gab zum Jahrestag des Élysée-Vertrags, als das von ihr in bleu blanc rouge. Aber das sollte schließlich das Weihnachtsgeschenk sein und kein Hinweis.

2 Kommentare:

  1. UTE! Ich glaub das einfach nicht!!!

    Erst dachte ich, ihr Betteln um Verzeihung sei vielleicht eine Masche. Aber dass sie wirklich, wirklich denkt, SIE habe einen Fehler gemacht, indem sie Lars Vorwürfe gemacht hat? Oh Mann, die Ärmste muss echt mal bisschen stärker werden.

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    1. Ja, wirklich unglücklich gelaufen für Ute, da hat ausgerechnet Susanne ihr das alles ausgeredet. Aber wie soll sie auch ahnen, dass nicht nur Lotte an Lars herumkratzt. Sie glaubt halt immer noch an das Gute im Menschen, oder jedenfalls zu sehr... ;)

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